Ingolstadt
Gewaltige Bauoffensive auf engem Raum

Im Nordwesten entstehen fast 1000 Wohnungen – „Wie ein Remake der 1960er-Jahre“

20.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:46 Uhr

Ingolstadt (DK) Der Bezirk Nordwest erlebt eine Bauoffensivem, die in Ingolstadt ihres Gleichen sucht. Es entstehen Hochhäuser mit insgesamt mehr als 900 Wohnungen. Weitere Projekte kommen dazu. Der Spielpark Nordwest wird versetzt. Die Kritik an dieser Verdichtung ist recht verhalten. Ein Überblick.

Der erste Eindruck: Ein bisschen habe sie sich ja schon gewundert, bekennt Jutta Materna, Mitglied des Bezirksausschusses (BZA) Nordwest und ehemals Vorstandssprecherin des Grünen-Kreisverbands: Da hagelte es vor einer Woche in der Sitzung des Stadtteilgremiums geradezu Pläne für riesige Bauvorhaben – es entstehen fast 1000 Wohnungen –, aber es gab keine nennenswerte Einwände, nur den kritischen Denkanstoß eines Besuchers. „Es ist alles mehr oder weniger wortlos mit einem Kopfnicken angenommen worden“, erzählt Materna. „Sogar die Wohntürme an der Stinnesstraße.“ Auch ihre eigene Skepsis halte sich in Grenzen, obwohl auf den sehr dicht besiedelten Nordwesten neue, monumentale Baumassen zukämen. „Denn es ist gut, wenn der dringend benötigte Wohnraum geschaffen wird“.

Materna beklagt allerdings eine wachsende Diskrepanz bei der Belastung der Ingolstädter Stadtteile mit Neubauten: Noch mehr Verdichtung im Norden gegenüber einer „immer stärkeren Blockadehaltung im Süden“ gegen jedes neue Haus. Ruhe und Beschaulichkeit würden vehement verteidigt. „Wie die Bürger im Süden das mit ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl vereinbaren, verstehe ich nicht!“ Im Nordwesten wünscht man sich mehr Gerechtigkeit bei der Besiedelung des Stadtgebiets, das wurde in einer Diskussion deutlich. „Bei uns werden Tausende neue Einwohner reingequetscht!“, klagte ein Besucher der BZA-Sitzung. Aber das blieb, wie berichtet wird, die einzige kritische Stimme an diesem Tag. Alle wissen: Der Wohnraummangel in Ingolstadt ist dramatisch. Da zählt jedes Zimmer.

 

Wohntürme an der Stinnesstraße: Hier ist noch ein bisschen Platz. Und deshalb wird gleich gegenüber dem Landesgartenschaugelände Gewaltiges entstehen – so gewaltig wie seit den späten 1960er-Jahren nicht mehr, der Zeit der bislang letzten großen Bauoffensive im Piusviertel; damals entstanden in der einstigen Mustersiedlung die ersten achtgeschossigen Häuser. Jetzt sind mehrere Wohntürme geplant – bis zu 24 Meter hoch, einer soll sogar 48 Meter weit aufragen. Über 900 Wohnungen unterschiedlicher Größe kommen auf den Markt. Die genaue Zahl der Hochhäuser hängt von den Konzepten der Investoren ab, aber die Namen stehen noch nicht fest.

Stadtbaurätin Renate Preßlein-Lehle ordnet das Großprojekt städtebaulich ein: „Die geplante Wohnbebauung an der Stinnesstraße soll zwischen dem künftigen Landesgartenschaugelände im zweiten Grünring und dem Piusviertel vermitteln und eine neue Wegeverbindung bieten. Das neue Wohnquartier mit sozialen Gemeinbedarfseinrichtungen und Kleingewerbe ist um einen zentralen großzügigen öffentlichen Spielpark angeordnet.“ Die sechs- bis neungeschossigen Wohnhäuser folgen dem Verlauf der Hans-Stuck- sowie der Furtwänglerstraße. „Eine erdgeschossig geschlossene Mantelbebauung hält die Verkehrsgeräusche von dem verkehrsberuhigten Erschließungsbereich der Wohnstraßen, der Wohnpromenade und den Grünbereichen fern“, erläutert die Stadtbaurätin. „Eine Reihe kleiner Quartiersplätze lädt zum Verweilen ein.“

900 Wohnungen: ein Befreiungsschlag gegen die sich immer weiter verschärfende Misere auf dem Wohnungsmarkt. „Damit kommt die Stadt Ingolstadt der großen Nachfrage nach Wohnungen arbeitsplatz- und auch noch relativ zentrumsnah nach“, sagt Preßlein-Lehle. Die Baustruktur biete zudem Raum für alternative Wohnformen wie Baugemeinschaften. „Wichtig ist uns vor allem, dass in den Erdgeschosszonen möglichst viele öffentliche Nutzungen, Büros, kleine Betriebe oder Läden entstehen, die auf den öffentlichen Raum der Wohnstraßen belebend wirken und dem neuen Quartier Identität geben.“

 

Die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (GWG) baut und baut: Das Unternehmen der Stadt stellt auf hohem Niveau Wohnungen fertig. Im Zeitraum von 2016 bis 2021 will die GWG in ganz Ingolstadt 1849 Wohneinheiten schaffen, 1400 davon werden öffentlich gefördert sein, man spricht auch von Sozialwohnungen. 410 sind bereits fertig und bezogen, berichtet die Unternehmenssprecherin Bianca Stein. 629 Wohneinheiten sind bis 2021 genehmigt, ein Sonderbauprogramm sieht von 2019 bis 2021 weitere 810 Wohnungen vor.

Im Piusviertel treibt die GWG derzeit zwei Projekte voran: Eines an der Richard-Strauss-Straße, Ecke Gustav-Mahler-Straße. Hier lag der Stammsitz der Metzgerei Brucklacher. Seit 1998 steht der Laden leer. Das Haus wird so wie das Nachbargebäude abgerissen. An dieser Stelle entstehen vier Gebäude mit vier bis sieben Etagen und Platz für 79 geförderte Wohneinheiten sowie drei Läden (auf insgesamt 5785 Quadratmetern). In der Mitte ist ein Quartiersplatz geplant. Eine Tiefgarage bietet 80 Plätze.

In der Hugo-Wolf-Straße baut die GWG auf einer freien Fläche drei Häuser mit insgesamt 48 geförderten Wohnungen. Die Gesellschaft würde auch gerne in das Großprojekt an der Stinnesstraße einsteigen, sagt Bianca Stein. „Wir warten darauf, dass die Stadt das Bieterverfahren eröffnet. Noch gehört uns dort kein Grundstück.“

 

Vom Spielpark zum Bewegungsparcours: In einer Gegend, die sich in den vergangenen Jahren fundamental verändert hat, bietet der Spielpark Nordwest letzte Orientierung. An der Gaimersheimer Straße gelegen, markierte er einst den Nordeingang zur Stadt, grüßte alle, die hier aus dem Landkreis Eichstätt nach Ingolstadt kamen. Aber mit der Erweiterung des GVZ im Jahr 2010 wurde der nördliche Abschnitt der Gaimersheimer Straße überbaut und der Spielpark von riesigen Industrieanlagen wie der Halle T umzingelt. Nun soll er ganz verschwinden – und ein Stück weiter südlich auf einem dreieckigen Grund an der Hans-Stuck-Straße sowie der alten Permoserstraße beim Kaufland neu entstehen. Jedoch nicht mehr als reiner Spielpark, sondern als „Bewegungsparcours“, dessen Ausstattung (etwa Fitnessgeräte) auch ältere Bewohner sowie Menschen mit Behinderung ansprechen soll. Die Skateranlage wird verschwinden und auf den kleinen Platz vor der August-Horch-Schule verlegt. „Alles, was zu laut sein könnte, kommt nicht in den neuen Park“, so fasst Jutta Materna den im BZA vorgestellten Plan zusammen. Diese Nachricht ist neu, zumindest für Außenstehende. „Durch die Verlegung des Spielparks kann die bisherige Grünfläche genutzt werden, und das GVZ erhält einen sinnvollen städtebaulichen Abschluss“, heißt es in den Ausführungen des Stadtplanungsamts zum Bebauungsplan.

 

Südhausbau: Die Münchner sind im Piusviertel beim Wohnungsbau und -unterhalt nach der GWG die Nummer zwei. Das Unternehmen baut jetzt an der Ungernederstraße 120 Wohnungen und will kräftig in das Wohnumfeld investieren.

 

Bauherr Diakonisches Werk: Auch der evangelische Sozialverband hat im Piusviertel Großes vor: Er ersetzt wie berichtet das Matthäusstift und den Bienengarten durch Neubauten. Eines der Altenheime entsteht an der Stinnesstraße. Es bietet 135 Plätze in neun Gruppen à 15 Bewohner. Gesamte Nutzfläche: 7750 Quadratmeter. Das Diakonische Werk hat das 6000 Quadratmeter große Grundstück der IFG abgekauft. Geplant ist zudem eine Sozialstation. Bei Bedarf können auf 250 Quadratmetern Tagespflegeplätze angeboten werden. Baubeginn ist im November dieses Jahres, ein Jahr später soll das Altenheim fertig sein.

 

Schlussbetrachtung: All die gewaltigen Bauanstrengungen kämen ihm so vor „wie ein Remake der 60er-Jahre“, erzählte Johann Lang, der Vorsitzende des BZA Nordwest, dem DK. „Auch damals hat es wegen des starken Bevölkerungsanstiegs in Ingolstadt einen großen Wohnraummangel gegeben. Man hat darauf reagiert, indem man im Piusviertel viele Häuser mit bis zu acht Etagen hochgezogen hat.“ Beispiel Richard-Strauss-Straße. „Und heute passiert wieder genau das Gleiche.“ Nur dass die Wohntürme jetzt noch höher aufragen. Die Geschichte wiederholt sich also – zumindest annähernd. Mit welchem Ausgang, wird sich zeigen.

Langs kritische Schlüsselfrage, die auf den Nordwesten damals wie heute zutrifft, sei hier wiederholt: „Ob diese weitere intensive Verdichtung dem Piusviertel guttut, wage ich nicht zu bewerten. Wir kommentieren auch besser nicht, ob diese Art der Bebauung sozialverträglich ist. Dafür ist unser BZA eine Nummer zu klein.“