Stadtgeflüster
Genosse Trend im zweiten Grünring

24.06.2019 | Stand 02.12.2020, 13:40 Uhr

(kue) Ende der 1950er-Jahre erlebte die deutsche Sozialdemokratie einen starken Aufschwung.

Lag die SPD nach der Bundestagswahl 1953 noch bei 29 Prozent, so stieg das Wahlergebnis bis 1972 fast auf heute schon unvorstellbare 46 Prozent an. 1966 saß die SPD erstmals in einer Großen Koalition auf der Regierungsbank. Ab 1969 führte Willy Brandt eine sozialliberale Koalition. Die Zahl der Parteimitglieder hatte sich bis 1972 verdoppelt, und die SPD stellte erstmals die stärkste Bundestagsfraktion.

Politologen erklärten das Phänomen mit der "programmatischen Öffnung der Partei durch das Godesberger Programm" von 1959. Der Chef der SPD-Öffentlichkeitsarbeit, Karl Garbe, jubelte damals: "Selbst der Trend ist Genosse geworden! " In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre endete der bundesweite Macht- und Mitgliederzuwachs der SPD. In Ingolstadt lässt sich der Zeitpunkt, ab dem es für die SPD bergab ging, ziemlich genau definieren.

Das Ergebnis der Kommunalwahl vom 11. Juni 1972 kommentierte der DONAUKURIER unter der Überschrift ",Genosse Trend' hat die Partei gewechselt". Das Wahlergebnis hatte alle Prognosen über den Haufen geworfen. Dass Peter Schnell den Oberbürgermeistersessel erobern würde, war erwartet oder befürchtet worden - je nach Standpunkt. Dass aber die CSU fünf Mandate hinzugewinnen und damit 22 Sitze im 44-köpfigen Stadtrat besetzen könnte, hatte niemand ahnen können. Wie wir heute wissen, sollte der DK-Kommentator recht behalten.

Wenn Christian Scharpf heute Abend - wovon wir ausgehen dürfen - mit einem großartigen Ergebnis zum Oberbürgermeisterkandidaten der Ingolstädter SPD gewählt ist, dann wird er vor seinen Genossinnen und Genossen eine kämpferische Rede halten, die uns vorab zugespielt wurde. Als Einleitung wird Scharpf angesichts der - bei Licht besehen - nicht ganz einfachen Lage der Ingolstädter Sozialdemokratie ein Zitat des italienischen Schriftstellers und Philosophen Antonio Gramsci (1891-1937) bemühen: "Was wir brauchen, ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens. "

Dann wird der frisch gekürte Hoffnungsträger auf jüngste Erfolge verweisen, wie zum Beispiel, dass neulich zu einer SPD-Versammlung 120 (! ) Personen ins Haunwöhrer Sportheim gekommen sind. Kommentierte Scharpf dies auf seiner Facebook-Seite noch recht zurückhaltend mit dem Satz: "Da soll noch einer sagen, die SPD ist tot, von wegen", so wird er angesichts eines solch eindeutigen Signals für eine epochale Trendwende alle staatsmännische Zurückhaltung fahren lassen, forsch den DK zitieren und zum Schluss seiner flammenden Rede ausrufen: "Genosse Trend hat die Partei gewechselt! " Dass ausgerechnet der Grünring Thema war, muss ja für die "Roten" noch kein schlechtes Omen sein!