München
Geistreicher Horrortrip

Kafkas "Das Schloss" in einer hinreißenden Bühnenfassung im Münchner Volkstheater

30.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:43 Uhr

München (DK) Eiskalt ist's draußen, aber noch frostiger ist's auf der Bühne des Volkstheaters: In dicke Pelzmäntel gehüllt und mit wärmenden Pelzmützen auf den Köpfen sitzen sie frierend und bibbernd in einem als Sicht- und Kälteschutz ganz symbolisch mit schwarzen Holzplatten verhangenen Glaskubus.

Totenbleich sind die mit Handschuhen nur zur Hälfte geschützten, knöchrigen Hände, kalkweiß geschminkt sind die Gesichter, und die weit aufgerissenen Augen tiefschwarz umrandet: Wie Lemuren in Schockstarre sitzen die Schauspieler da, bis sie als Schreckgespenster aus der Geisterbahn sich selbst und diesen klaustrophobischen Raum (von Pia Greven) als Mini-Zirkuszelt voll tollwütiger Gestalten höchst rasant in Bewegung setzen.

Wie der französische Regisseur Nicolas Charaux (Jahrgang 1982) allein schon den ersten Satz von Franz Kafkas (1926 posthum von seinem Freund Max Brod herausgegebenen) unvollendeten Roman "Das Schloss" in diese dunkel-mystische Eingangsszene seiner Bühnenfassung visuell umsetzt, das ist fantastisch gelungen: "Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen. Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an." Und dass der von Kafka nur mit dem Anfangsbuchstaben seines Namens genannte (vermeintliche) Landvermesser K. zu seinem Arbeitsplatz in einem gräflichen Schloss vordringen will, stattdessen aber in ein undurchschaubares Macht- und Ränkespiel unheimlicher Gestalten gerät, ist in dieser Dramatisierung des Regisseurs zu einem ebenso hinreißend vitalen wie mit geistreichen Gags reichlich gespickten Horrortrip geraten.

Wie Nosferatus schräge Erben geistern die acht Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich Kafkas (auf zwei Stunden klug gekürzten) Originaltext aufteilen, durch ihren Glaskasten, lassen ihn mit ihrer Körperkraft fast bis zur totalen Erschöpfung wie ein Karussell des Lebens und der zerstörten Hoffnungen rotieren. Dazu staksen sie in marionettenhaften Bewegungen und mit vogelwilden pantomimischen Einlagen über die Bühne. Und grimassieren auch noch mit einem Furor, der bei den Zuschauern gleichermaßen Beklemmung wie Amüsement provoziert: ein kafkaeskes Mysterium zur Geisterstunde.

Wenn Carolin Hartmann gar in übersteigerter Mimik und Gestik die Suada der Wirtin, in deren Kaschemme K. um Übernachtung bittet, minutenlang ohne Punkt und Komma als begnadete Hysterikerin herunterrattert, Silas Breiding als überehrgeiziger Gemeindevorsteher und Schlossadjutant einen schier endlosen Monolog über K.s angebliches Fehlverhalten geifernd hinausbrüllt und Jonathan Müller im Übereifer der Erregung eines Unterstützers des ominösen Landvermessers K. mit herrlich falschem Pathos, rollenden Augen und wüsten Gesten nur noch Bruchstücke eines Satzes ausspuckt, kommt Sonderapplaus der Zuschauer für diese großartigen schauspielerischen Leistungen. Auch Luise Kinner, Pola Jane O'Mara, Maria Widmann, Jakob Gessner und Mehmet Sözer sind köstliche paranoide Spukgestalten, die Kafkas Scheitern des Individuums an einer übermächtigen Behördenbürokratie - und im übertragenen Sinn an der Gesellschaft - ausspielen.

Irrwitzige Automatenmenschen und wild gewordene Zombies setzen hier Franz Kafkas surreale Erzählung in eine ebenso fetzige Gruselstory wie in eine erfrischend intellektuelle Theateraufführung um. Das Premierenpublikum jubelte.

Die nächsten Aufführungen sind am 4., 11., 12. und 28. Februar. Karten gibt es unter (0 89) 5 23 46 55. #media-0;