Ingolstadt
Gegen die Wand

Das Thema Graffiti wird kontrovers diskutiert – In Ingolstadt sollen sich die Streetart-Künstler allerdings etablieren können

16.07.2015 | Stand 02.12.2020, 21:02 Uhr

Foto: Friederike Ebeling

Ingolstadt (DK) An Graffiti scheiden sich die Geister. Für die einen ist es Vandalismus, für die anderen wertvolle Kunst. Ingolstadt positioniert sich hingegen ganz klar: „Graffiti soll sich als Kunstform etablieren“, findet Stefan Moser, Geschäftsführer des Stadtjugendrings. Seit bereits 20 Jahren bietet die Stadt Flächen, um Graffiti-Künstlern das legale Sprühen zu ermöglichen. Dazu gehörten die Bahnunterführung in Unsernherrn (als Hall of Fame etabliert), eine Fläche unter der Konrad-Adenauer-Brücke und neuerdings auch das Projekt „Stromkastomize“ – eine gemeinsame Aktion von Stadtwerken und Stadtjugendring, bei der Stromkästen mit Graffiti verschönert werden.

Damit folgt Ingolstadt einem Trend, der seine Wurzeln bereits in den 1970er Jahren hat. Ein New Yorker Kurierfahrer fing damals an, überall dort, wo er warten musste, seinen Namen hinzukritzeln. Es dauerte nicht lange, da übernahmen die Gangs in Brooklyn und Harlem die Kritzelei, um ihr Revier zu markieren. Mittlerweile hat sich Graffiti in den USA als Kunstgattung etabliert. Galerien und Museen machen es vor.

Auch Großbritannien schätzt die Arbeit der sogenannten Streetart-Künstler – wer einen Banksy in London sieht, fotografiert ihn. Das Foto kommt später ins Urlaubsalbum, selbstverständlich. Deutschland hingegen lässt eine vergleichbare Euphorie vermissen. Die Deutsche Bahn nimmt die Jagd auf Sprayer jährlich mit mehreren Millionen in Kauf. „Verfolgung und Anzeige – das bewirkt doch nur das Gegenteil“, meint Moser vom Stadtjugendring. Denn Graffiti lebe vom „Adrenalinkick“ und vom Risiko des „Erwischtwerdens“. Repression ziehe die Sprayer nur an.

Moser appelliert deswegen für legale Flächen. „Weil die Künstler nicht unter Zeitdruck sprühen, kann sich die Kreativität viel besser entfalten“, sagt er. Die sogenannten Pieces – so heißen die Graffiti-Bilder im Jargon – erzählen von Hip-Hop und Fantasiefiguren, und natürlich dem Tag, dem aufwendig gestalteten Signaturkürzel des Künstlers. „Banal gesagt, geht es im Graffiti eigentlich nur um die Verbreitung des Künstlernamens“, erklärt Boris Schmelter. Sein Pseudonym: Dyset, weil die Kombination aus Buchstaben ihm so gefallen hätte. Der 35-Jährige ist Mitorganisator des Ingolstädter Graffiti-Treffens „La Grande Schmierâge“, eines der größten seiner Art in Deutschland. Alle zwei Jahre kommt die Szene hier zusammen. In der Bahnunterführung in Unsernherrn gestalten sie die 250 Meter lange Hall of Fame neu. Ein Event, das bereits Künstler aus der ganzen Welt nach Ingolstadt zieht. Erst vor wenigen Wochen war es wieder so weit – Kanadier, Russen und Franzosen waren dabei.

Die meisten Künstler sind zwischen 25 und 40 Jahre alt. Familienväter, Anwaltssöhne oder Arbeitslose – ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Meist sind sie männlich. Bei der letzten „La Grande Schmierâge“ war erstmalig eine Frau dabei. Eine positive Entwicklung, findet Moser.

„Übermale nie ein Bild, das unfertig oder besonders gut gelungen ist“, lautet ein Graffiti-Gesetz. Mehr Regeln gibt es beim Sprühen nicht. Graffiti lebe schließlich davon, dass man machen könne, was man möchte, findet Schmelter. An den Bildern hängen aber nicht nur Respekt und Emotion, sondern auch Geld. Ein Tag kostet im Durchschnitt 100 bis 250 Euro. Umgerechnet sind das zehn bis 20 Sprühdosen. Ein teures Hobby. Wer gut ist, macht seine Passion später zum Beruf. Wie Boris Schmelter – heute ist er Grafikdesigner.

Wie professionell Graffiti sein kann, zeigt die Hall of Fame in Unsernherrn. Dort schmückt sich der Künstlername Tasso im wörtlichen Sinn mit fremden Federn. Links und rechts vom Tag zwei nackte Hühner. Ihre Federn kleben am Schriftzug „Tasso“. Das ist hochwertiger Fotorealismus, der mittlerweile auch im Graffiti angekommen ist. Andere Bilder, wie die Gestaltung des Stromkastens am Rathausplatz, erinnern an Formen aus der Konkreten Kunst. Farbige Flächen fügen sich kompositorisch zu einem großen Ganzen. Goldener Schnitt, Hell-Dunkel-Kontrast und ein wohlüberlegtes Farbkonzept sorgen für Spannung, aber auch Balance in den Bildern.

Die kreative Kraft komme aber immer noch aus der illegalen Szene, beobachtet Moser. Würde die komplett wegfallen, wäre das der Untergang der Graffiti-Szene. „Auch wenn das die Stadt nicht hören mag, es ist die Realität“, so Moser. Ex-Sprayer Schmelter bestätigt: „Sonst wäre die Szene tot.“ So gesehen ist und bleibt Graffiti eine Kunst zwischen Verbot und Gesetz.