Pfaffenhofen
Gegen das Vergessen

Heimatforscher Reinhard Haiplik erinnert an das Schicksal jüdischer Familien aus Pfaffenhofen – Teil 1

30.01.2015 | Stand 02.12.2020, 21:42 Uhr

 

Pfaffenhofen (PK) „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben.“ Mit klaren Worten hat Bundespräsident Joachim Gauck am Mittwoch an die Verantwortung Deutschlands erinnert.

Es war der Tag, an dem weltweit der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren gedacht wurde. Die Opfer des Nazi-Terrors dem Vergessen entreißen: das treibt auch den Heimatforscher Reinhard Haiplik an. Für den PK hat er in einem vierteiligen Beitrag das Schicksal jüdischer Familien aus Pfaffenhofen dokumentiert, die in Auschwitz und Theresienstadt umkamen. Teil 1 dreht sich um Familie Hess.

In der Ingolstädter Straße – einst trug sie den Namen Rosengasse – steht links neben dem Stegerbräu ein markantes, grün gestrichenes Haus. Die Stufen des Giebels gleichen abgerundeten Zinnen. Man nannte das Gebäude „Vogelbäckerhaus“. Mehr als 200 Jahre lang, von 1676 bis 1890, wurde hier Brot gebacken. Die Familien Mayr, Vogl und Köstler betrieben florierende Bäckereien. 1894 erwarb der jüdische Handelsmann Michael Einhorn das Gebäude. Das in Wien erscheinende „Deutsches Volksblatt“ erging sich in höhnischen Kommentaren. Man las am 10. Mai 1894: „Pfaffenhofen. Der erste Jud’ hier eingezogen, und schon möchte man ihn gern wieder los sein.“ Die antisemitische Zeitung zitierte ein Flugblatt, in dem Pfaffenhofener Bürger ihrem Unmut freien Lauf ließen. Zunächst wurde darin über den Verkäufer hergezogen. „Ein Mann, der ohnehin gut situiert und obendrein Katholik ist, stellt einem derer vom Bezirksamt Jerusalem ein Haus zur Verfügung, damit dieser den ansässigen Geschäftsleuten Konkurrenz bietet und mit Stadt- und Landbevölkerung nach Semitenart seine fainen, aber nicht immer koscheren Geschäfte machen kann!“ Das Wiener Blatt stellte dann zufrieden fest: „Bis jetzt war es keinem Juden möglich in Pfaffenhofen festen Fuß zu fassen“.

Mag es angesichts einer solchen Stimmung verwundern, dass Michael Einhorn nicht lange in Pfaffenhofen bleiben wollte? Er verließ die Stadt nach knapp zwei Jahren. Das Vogelbäckerhaus erwarb nun der Besitzer des gegenüberliegenden Franzbräu, der Müllersohn Sebastian Schweiger. Gegen diesen hetzte nun das „Deutsche Volksblatt“ im Oktober 1896: Schweiger habe „in übertriebener Nächstenliebe“ einem „Juden 3. Sorte“ sein Gasthaus zum ständigen Aufenthalt überlassen. Schweiger zeigte sich wenig beeindruckt. Er verkaufte das „Vogelbäckerhaus“ an einen jüdischen Händler, den 1871 in Trunstadt bei Bamberg geborenen Jonas Hess. Er eröffnete ein Schnitt-, Kurz- und Wollwarengeschäft. In einer großen Anzeige im Königlichen Amtsblatt für das Bezirksamt Pfaffenhofen empfahl er sein Geschäft dem „allgemeinen Wohlwollen“. 1900 eröffnete Jonas Hess ein „Herrenkonfektionsgeschäft“, das gut zu laufen schien. Hess war mit der neun Jahre jüngeren Ida Niederheimer aus Roth bei Nürnberg verheiratet. Ihr Vater Moritz war Vorsteher der Israelitischen Kultusgemeinde von Roth. Dem Ehepaar wurde im Januar 1904 der Sohn Martin geboren. Er starb nach einem Jahr. 1906 kam Sohn Manfred in Straubing zu Welt: Er emigrierte 1934 zunächst nach Mailand und dann nach New York. Dort praktizierte er als Arzt. 1971 starb er im Alter von 65 Jahren.

Am Heiligen Abend des Jahres 1911 wurde in Pfaffenhofen Tochter Hulda geboren. Sie konnte wohl noch vor der Reichspogromnacht im November 1938 nach New York auswandern. Zwei Mal war sie verheiratet – zuerst mit Gus Oppenheimer, dann mit Henry Schwab. Hulda starb 1990. Jonas und Ida Hess blieben noch bis zum Mai 1912 im Vogelbäckerhaus. Das Geschäft verkauften sie an Jakob Tischner aus Tandern, der es bis 1919 betrieb. Die Familie Hess zog nach München. In der Pettenkoferstraße betrieb sie einen Großhandel für Wollwaren. Später wurde der Betrieb mit vier Angestellten in die Herzog-Wilhelm-Straße verlegt. 1926 wurde die Tochter Lotte Lea geboren. Sie floh 1939 nach London. Noch während des Zweiten Weltkrieges emigrierte sie nach Palästina.

Dorthin oder nach Kuba wollten auch Jonas und Ida Hess. Das Leben in München war unerträglich geworden. Der Betrieb wurde nach der Pogromnacht 1938 geschlossen. Das Anwesen an der Herzog-Wilhelm-Straße musste im Zug der Arisierung an einen Doktor Ludwig Gilmer verkauft werden. Die Polizeidirektion versuchte, den stets rechtschaffenen und angesehenen Hess mit absurden Beschuldigungen zu belasten. Es bestehe der Verdacht des Konkubinats und der Steuerhinterziehung. Vergeblich bemühte er sich um einen Pass, der die Ausreise ermöglichen könnte. Die Polizei behauptete in einem Aktenvermerk, die Eheleute Hess seien 1940 nach Palästina, beziehungsweise 1941 nach Kuba ausgewandert. Die Wahrheit ist eine andere: 1940 waren Jonas und Ida Hess notdürftig in der Pension Toussaint in der Brienner Straße untergekommen. Dann wurden sie vorübergehend getrennt in Einrichtungen der Israelitischen Kultusgemeinde verlegt: Ida Hess ins Lehrlingsheim in der Hohenzollernstraße, Jonas Hess ins Krankenhaus in der Hermann-Schmid-Straße. Sie sahen sich im Übernachtungsheim in der Wagnerstraße wieder. Dort blieben sie 18 Monate. Am 3. Juli 1942 wurden sie mit 48 Leidensgenossen ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.

Sieben Personen überlebten die Gräuel. Jonas und Ida Hess waren nicht darunter. Jonas starb am 1. August 1942. Das Archiv von Yad Vashem in Jerusalem gibt im Gedenkblatt „Hunger und totale Schwäche“ als Todesursache an. Ida Hess hat ihren Mann nicht lange überlebt. Auch sie starb, so heißt es in der Holocaust-Gedenkstätte des Staates Israel wegen Hunger und Schwäche.

Im „Aufbau“, einer in New York erscheinenden deutsch-jüdischen Emigrantenzeitung erschien am 14. September 1945 eine schwarz umrandete Todesanzeige: „Wir erhielten die traurige Gewissheit, dass unsere lieben Eltern und Großeltern Jonas und Ida Hess, geb. Niederheimer (früher München) in Theresienstadt verschieden sind. In tiefer Trauer, Dr. Manfred Hess und Frau Anna, Henry Schwab und Frau Hulda geborene Hess, Lotte Hess, Palästina, und Enkel.“

Im Jahre 2007 wurde Lotte Lea Csillag, geborene Hess, vom „Claim resolution tribunal“ in Zürich eine Entschädigung aus dem Vermögen zugesprochen, das ihr Vater bei einer Schweizer Bank hinterlegt hatte.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden übrigens im Pfaffenhofener Vogelbäckerhaus Kleider verkauft. Die Familie Schätzl betrieb dort ein Geschäft, an das sich sicher noch manche Pfaffenhofener erinnern. Derzeit ist in dem schon 1639 nachgewiesenen Gebäude ein Reformhaus untergebracht. Es nennt sich vita nova – neues Leben.