Windischeschenbach
Ganz unten

In Windischeschenbach in der Oberpfalz wurde vor 30 Jahren das tiefste Loch der Welt gebohrt

09.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:23 Uhr

Die Bohrkerne werden bis heute im Archiv des Geo-Zentrums gelagert. - Fotos: KTB

Windischeschenbach (DK) Vor 30 Jahren startete in der Oberpfalz ein aufsehenerregendes Großforschungsprojekt: Im kleinen Windischeschenbach ging die größte Landbohranlage aller Zeiten in Betrieb. Mehr als 9000 Meter grub sich der Meißel ins Innere der Erde - das tiefste zugängliche Loch weltweit.

Warum ausgerechnet Windischeschenbach - ein Städtchen mit rund 5000 Einwohnern nördlich von Weiden? Die Antwort reicht weit zurück in die Erdgeschichte: Vor 320 Millionen Jahren kollidierten an dieser Stelle die Kontinentalplatten Ur-Afrikas (Moldanubikum) und Ur-Europas (Saxothuringikum) und warfen ein riesiges Gebirge auf. Die Geologen wollten an dieser Nahtstelle den Aufbau der kontinentalen Erdkruste untersuchen - gewissermaßen die "Knautschzone".

Nie zuvor war unter solch geologischen Gegebenheiten tiefer gebohrt worden. "Eine Pionierleistung", sagt Thomas Freytag, der dabei war, als das Kontinentale Tiefbohrprogramm der Bundesrepublik Deutschland (KTB) zur Erforschung der Erdkruste begann. Der heute 63-Jährige sollte die Bohrspülung herstellen, die unabdingbar war zur Kühlung des Meißels und zur Stabilisierung des Bohrlochs. Die perfekte Mischung aus Wasser und künstlichem Ton herzustellen, die alle physikalischen und chemischen Voraussetzzungen mitbrachte, war ausschlaggebend für das ganze Projekt. "Das war schon etwas sehr Anspruchsvolles", erinnert sich Freytag. Er ist bis heute stolz, an diesem außergewöhnlichen Vorhaben beteiligt gewesen zu sein. "Das erregte ja weltweit Aufsehen und ist bis heute eine prima Eintrittskarte für Jobs."

Thomas Freytag schlürft daheim um die Mittagszeit seinen Morgenkaffee, denn erst spät in der Nacht zuvor ist er von einem Einsatz in Holland zurückgekehrt. "Dort suchen wir nach Erdwärme - Geothermie", erzählt er. An der Bohrstelle habe er Kollegen von damals wiedergetroffen. "Es gibt ungefähr 100 Spezialisten wie uns in Deutschland. Da begegnet man sich immer wieder." Die Profis sind auf der ganzen Welt unterwegs und führen ein Nomadenleben. Freytag ist einer der wenigen, der sich damals im Zuge der KTB häuslich niedergelassen hat - ausgerechnet in der Oberpfalz, wo er als Norddeutscher anfangs kein Wort verstand.

Wenn er aus dem Fenster blickt, sieht er den 83 Meter hohen imposanten Bohrturm - Wahrzeichen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, das bis heute an das ehrgeizige Vorhaben erinnert. Neben dem Bohrturm entstand später das Geo-Zentrum an der KTB, das pro Jahr mehr als 25 000 Besucher anlockt. Dort wurde unlängst auch das Jubiläum gefeiert. Freytag bedauert, diesmal das traditionelle Ehemaligentreffen verpasst zu haben. Aber nachdem er in der Nähe wohnt, schauen immer wieder Kollegen von damals bei ihm vorbei. "Dann schwelgen wir in alten Zeiten."

Im Herbst 1987 begann die Vorbohrung, die zwei Jahre dauerte. Dann wurde der Bohrturm errichtet: Die Hauptbohrung startete im September 1990 und stellte die Technik vor nie da gewesene Herausforderungen: Bei steigenden Temperaturen und einem enormen Druck musste der Meißel möglichst senkrecht in die steil gefalteten, harten Gesteinsschichten bohren. Ein Vorstoß ins Ungewisse: 10 000 bis 14 000 Meter sollte es in die Tiefe gehen. Ständig wurden Proben entnommen: Bohrkerne und das sogenannte "Bohrklein" aus dem Auswurf des Bohrers werden bis heute im Geo-Zentrum archiviert. Mehrfach kam der Bohrer zum Stillstand und musste nach stückweisem Verfüllen des Lochs neu angesetzt werden.

Bei 9101 Metern war dann Schluss: Am 12. Oktober 1994, nach 1468 Tagen und bei einer Temperatur von annähernd 300 Grad, musste die Hauptbohrung beendet werden. Bis zum Jahresende wurden drei Großversuche zur Erdwärmeforschung durchgeführt. Danach wurde die Anlage teilweise außer Betrieb genommen, nur noch kleinere Versuche fanden statt.

Welche Erkenntnisse gewonnen wurden, kann - allgemein verständlich - am besten Frank Holzförster, Leiter des Geo-Zentrums, erklären: "Es wurde festgestellt, dass das Übereinanderstapeln der Kontinentalplatten nur für die oberen Erdschichten zutrifft. Aber in der Tiefe sieht es anders aus, weil das Gestein sich anders faltet. Es gibt dort auch Zonen, wo das Gestein ganz brüchig ist." Die Forscher fanden heraus, dass in großen Tiefen Klüfte auftreten und deshalb Tiefenwasser weitaus mobiler sind als zuvor angenommen. Das spielt bei der Planung künftiger Tieflager für radioaktive Abfälle eine wesentliche Rolle. Die Auswertung der Bohrlochmessungen lieferte zudem wichtige Daten in den Bereichen Seismik, Magnetik oder bei der Erdbebenbeobachtung.

Die Forscher wollten in Windischeschenbach so tief bohren wie möglich. Aus Experimenten wussten sie bereits, dass das Gestein dort unten bei Beanspruchung anders reagiert als an der Erdoberfläche. Bei der Bohrung wurde der Beweis erbracht: "Es zerschmiert wie zäher, kalter Honig", so Holzförster. Auch Thomas Freytag erinnert sich noch gut daran: "Das Gestein wird weich wie formbares Plastik. Das Bohrloch wuchs immer wieder zu." Tiefer ging es nicht mehr.

Zahlreiche Wissenschaftler haben inzwischen in mehreren Tausend Veröffentlichungen Ergebnisse der Bohrung publiziert - und tun dies bis heute. "Vorige Woche war wieder einer von der Sorbonne da", so Holzförster. Aber auch für Nicht-Geologen lohnt sich der Besuch am tiefsten Loch der Erde.