Amsterdam
Ganz nah am Leben

Vor 350 Jahren starb Rembrandt - Das Rijksmuseum in Amsterdam zeigt die erste Jubiläumsschau dieses Jahres

11.03.2019 | Stand 23.09.2023, 6:12 Uhr
Rembrandt van Rijn: Selbstporträt als Apostel, 1661. −Foto: Rijksmuseum

Amsterdam (DK) Heute wäre das alles ganz einfach. Rembrandt müsste nur das Smartphone vor sich halten und ein Selfie nach dem anderen schießen. In wenigen Sekunden hätte er jede denkbare Miene eingefangen: grimmig oder verdutzt, mal mit Mütze, mal mit Hut. Dann mit weit aufgerissenen Augen und wild zerzausten Haaren, wie ein Faschingsprinz im orientalischen Gewand oder ganz seriös wie ein Kaufmann über seinen Büchern.

Fotokameras gab's im 17. Jahrhundert bekanntlich noch nicht, sich zu zeichnen oder gar zu radieren war eine mühsame Prozedur. Doch das konnte Rembrandt nie abschrecken. Im Gegenteil. Mehr Bilder hat bis dahin kein Künstler von sich gemalt, von den endlosen physiognomischen Studien des nicht einmal 20-jährigen Werkstattbesitzers bis zum letzten pastosen Selbstbildnis im Den Haager Mauritshuis, das einen vom Schicksal gebeutelten alten Mann zeigt, der ohne Gram das Ende im matten Blick hat.

Mit dieser ständigen Selbstschau übt sich der 1606 in Leiden geborene Maler nicht nur von Anfang an im Porträtieren - das verschafft ihm bald schon wichtige Auftraggeber. Er rückt damit auch ganz nah an unsere Zeit. "Wer bin ich, und wenn ja wie viele?", scheint sich Rembrandt dauernd zu fragen.

Im Amsterdamer Rijksmuseum wird das gleich zum Auftakt in einer regelrechten Porträtflut deutlich. Winzige Bildchen, etwas größer als Briefmarken, reihen sich aneinander wie ein Comicstrip der Befindlichkeiten.

Doch mit den inflationären Ego-Shootings auf Facebook und Instagram hat das nur bedingt zu tun. Rembrandt geht es weniger um die Inszenierung seiner selbst, als um das Erkunden und Erforschen. Erbarmungslos nimmt er sich ins Visier und genauso seine Umgebung. Nichts kommt ihm aus, und was andere gar nicht erst wahrnehmen oder diskret übersehen, weckt seine Neugier. Ob das nun ein pinkelnder Landstreicher ist oder eine Marktfrau, die Pfannkuchen wendet (1635), ob ein Mönch beim schnellen Sex im Kornfeld (1646) oder eine Bettlerin in Lumpen.

Außenseiter und Menschen aus den untersten Schichten tauchen sonst eher in moralisierenden Genrebildern auf, die liegen Rembrandt freilich so fern wie das Polieren der Oberfläche. Und Schlüpfrigkeiten sind im calvinistischen Amsterdam sowieso ungewöhnlich. Erst recht sorgen Beischlafszenen oder der Blick auf die Scham, wie sie Potiphars Weib beim Gerangel mit dem flüchtenden Josef freigibt (1634), für einige Empörung. Im prüden 19. Jahrhundert wollte man gar nicht glauben, dass der Maler eindringlicher biblischer Episoden der Urheber solcher "Schweinkram"-Radierungen gewesen sein soll. Aber Nacktheit ist eben eine heikle Angelegenheit, auch heute wieder, wo wir kurz davor sind, einen Höschenmaler durch die Galerien zu schicken.

Und Rembrandt verstößt noch gegen ein ganz anderes Tabu: Er zeichnet seine eigene, noch dazu schwangere Frau im Schlafzimmer, wie sie auf dem Bett sitzt. Ob Saskia mit dieser sehr intimen Momentaufnahme einverstanden war, lassen die schnellen groben Striche offen. Allerdings gehört die Familie - auch das gibt es vorher nicht in diesem Ausmaß - zu Rembrandts Stammpersonal. Sei es die lesende Mutter als Prophetin Hanna, der Vater mit einem imposanten Turban, Sohn Titus natürlich und immer wieder die geliebte Ehefrau, deren Tod Rembrandt 1642 in ein schwere Krise stürzt.
Die besondere Beziehung zu den familiären oder befreundeten Modellen hat vielleicht auch die emotionale Tiefe befördert, die Rembrandts Kunst so einzigartig macht und den Betrachter sofort ins Geschehen zieht. Bis heute wirken diese bald 400 Jahre alten Szenen ganz unmittelbar. Und das betrifft die repräsentativen Porträts der High Society in derselben Weise wie die vielen Blätter von Armenhäuslern, Krüppeln und Ausgestoßenen. Immer sind es Menschen aus dem Alltag mit ihren Stärken und Schwächen und mit ihren großen und kleinen Makeln. Das können Zellulite-Dellen sein oder eine Knollennase, die Rembrandt selbst gequält haben dürfte.

"Nobody is perfect", erzählt diese Malerei in einer Tour, die Schönheitsideale seiner italienischen Kollegen interessieren Rembrandt nicht. Was zählt, ist die Wahrhaftigkeit, die in seiner stupenden Lichtregie eine ganz eigene, kühne Dramatik entwickelt. Und alles gerät bei Rembrandt in Bewegung. Selbst die Honoratioren, die es gewohnt sind, sich für ihre Gildenbilder in staatstragenden Posen zu üben, bringt er nicht nur in der berühmten "Nachtwache" (1642) aus der Fassung. Das ist nah dran am frühen Film und spielt weiter in den Köpfen des Publikums.

Das kann nun "Alle Rembrandts" des Rijksmuseums nebeneinander studieren. Das Haus besitzt allein 22 Gemälde, fast die gesamte Druckgrafik und die meisten Zeichnungen. Solche Fülle erlaubt es, ein Werk zu verfolgen, das fulminant begonnen hat, um nach beträchtlichen privaten Tiefschlägen und finanziellem Ruin doch wieder flirrend licht und frei zu werden. Selbst die Liebe tupft Rembrandt in der "Judenbraut" noch einmal so berührend auf die Leinwand, als erinnerte er sich an bessere Tage, drei Jahre vor seinem einsamen Tod 1669.

"Alle Rembrandts" bis 10. Juni im Rijksmuseum Amsterdam. Es empfiehlt sich, Karten vor dem Besuch übers Internet zu buchen: www.rijksmuseum.nl/de

Christa Sigg