Ingolstadt - Was für ein entlarvendes Bild: Da sitzen sie alle in ihren Wirtschaftswunderküchen und gucken zu. Und wissen Bescheid über alles, was sich in der "mittelgroßen Stadt in der mittelgroßen Provinz" in der prüden Adenauer-Bundesrepublik so abspielt. Dass der Bürgermeister ins Bordell geht - und am Sonntag von der Gattin dort zum gemeinsamen Kirchgang abgeholt wird. Wie der Baulöwe Schuckert seine dubiosen Geschäfte betreibt. Dass der kleine Angestellte Esslin verzagt die Edelnutte Lola anschmachtet - die doch mit Haut und Haaren Schuckert gehört.
Als der neue Baudezernent von Bohm sein Amt antritt, macht sich Unruhe breit. Und tatsächlich entpuppt er sich als äußerst korrekt - in allen Belangen. Dann verliebt er sich ausgerechnet in Lola - und will sie heiraten. Als er die Wahrheit über sie und ihre Beziehung zu Schuckert herausfindet, will er die Stadt vernichten, den Sumpf aus Korruption und Klüngelei trockenlegen. Doch niemand will etwas am Status Quo ändern. Nicht mal die Presse interessiert sich dafür. Bohm arrangiert sich, schenkt Lola das Bordell und wird ins System integriert.
"Lola" ist der letzte Film von Rainer Werner Fassbinders BRD-Trilogie aus dem Jahr 1981 mit Barbara Sukowa und Armin Mueller-Stahl in den Hauptrollen. Das Drehbuch dazu schrieben Peter Märtesheimer und Pea Fröhlich. Auf der Basis ihres Textes hat Regisseurin Mareike Mikat die "Kleinbürgertragödie" über die Heuchelei in der Wirtschaftswunder-Gesellschaft auf die Bühne des Großen Hauses gebracht. Ihr Blick auf diese Zeit Ende der 50er Jahre, auf die Hierarchien und Rollenbilder, ist dabei ein anderer als der Fassbinders, ist der der Nachgeborenen, der Feministin. Der Premierenabend am Samstag wurde lange beklatscht, hinterlässt aber trotzdem einen zwiespältigen Eindruck.
Aber der Reihe nach: Zunächst einmal gibt es da das phänomenale Bühnenbild von Simone Manthey, das den Bühnenraum über die Portale hinaus perfekt nutzt. Links hat sie eine Wohnküche mit Tisch, Büfett und Fernseher aufgebaut - der Platz für die Frauen. In dieser Keimzelle der Heimeligkeit wird aber auch Musik gemacht - mit E-Gitarre, Klavier, Mixer und Schrubberbürste. Hier wird kommentiert und rebelliert. Und fantastisch gesungen.
Aus der Unterbühne fährt das Etablissement "Villa Fink" hoch mit verschiedenen Rotlicht-Kabinetten, viel rotem Samt und goldenen Kissen mit perfektem Knick. Sie erstreckt sich bis ins Büro des neuen Baudezernenten, der erst mal ein paar vergessene Hakenkreuze entfernen muss, als er sein Amt antritt.
Am rechten Bühnenportal bietet ein Stadtplan mit Kirche und Ringstraßen Orientierung - und zeigt vor allem anhand des wachsendem Autoverkehrs die Prosperität der Stadt. "Brumm, brumm" - das ist das Credo von Bürgermeister Völker, mit dem er den rapiden Aufschwung der Autostadt beschwört. Und zur großen Finale-Schweinerei verwandelt sich der komplette Bühnenraum in einen Partysaal mit Discokugel, dem Versprechen auf Massenkonsum und moralischer Indifferenz.
Diese eindringliche Bildsprache unterlegt die Regisseurin mit einer mitreißenden Musikalität, indem sie die Figuren das Bühnengeschehen und die eigenen emotionalen Befindlichkeiten in fast Brechtschen Sinne immer wieder kommentieren und reflektieren lässt. Deutsch-Pop-Rock, clever, poetisch und berührend - geschrieben, komponiert und eingerichtet für den weiblichen Küchenchor von der Leipziger Sängerin und Songwriterin Wencke Wollny, dem zweiten Glücksfall des Abends. Als Conférencieuse führt sie durch den Abend, gibt Zeiten oder Regieanweisungen vor, spielt sich durch die verschiedensten Instrumente - und schenkt vor allem den Frauen dieser 50er Jahre eine Stimme: Die Seeräuber-Jennys begehren auf.
Aber - und das ist der Teil, in dem das Mäkeln beginnt - Regisseurin Mareike Mikat überfrachtet die Fassbinder-Satire in vielerlei Hinsicht. Mit Hyper-Aktivität. Mit einem Ideen-Overkill. Und nicht alle sind so brillant ausgeführt wie die Zeitung lesenden Herren, die das Jahr 1955 im Schnelldurchlauf Revue passieren lassen. Beim Thema kollektive Moralvorstellungen kommt Mikat auf die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen und erzählt in einem kleinen Exkurs davon, wie lange es gedauert hat, bis Vergewaltigung in der Ehe ein Straftatbestand wird (nämlich erst 1997). Die seit einiger Zeit schwelende Sexismus-Debatte, mit der ein neues Ausloten von Geschlechteridentitäten einhergeht, wird hier sichtbar in der Neujustierung der Rollen: Zwar durchschreiten alle gemeinsam in den gleichen schwarzen Kampfstiefeln die Wirtschaftswunder-Tour-de-Force. Doch alle Frauen tragen Schnurrbärte und geben sich angestrengt maskulin, alle Männer wiederum zeigen viel nacktes Bein und probieren sich in femininen Posen. Was den Schauspielern bisweilen - so scheint es jedenfalls - eine differenzierte Rollengestaltung raubt. Gerade bei Theresa Weihmayr in der Titelrolle vermisst man das Sirenenhafte, Laszive, das der Figur neben all dem Berechnenden, Geschäftstüchtigen eben auch innewohnt. Nur in den zögerlichen Annäherungen zu Bohm vermag süße Leichtigkeit aufzublitzen. Der Heiratsantrag gehört sowieso mit zu den schönsten, weil verspieltesten Szenen im Stück. Wie Martin Valdeig als Bohm um Lola wirbt, immer wieder neu ansetzt - das ist komisch und ergreifend zugleich. Überhaupt spielt er unsagbar gut - hoch konzentriert, mit starker Bühnenpräsenz, nuanciert. Als findiger Gegenpol wirkt Johannes Kühn - erst vor einer Woche für Olaf Danner als Bauunternehmer Schuckert eingesprungen -, hart, aber smart, der Machtmensch als Hallodri. Insgesamt agiert das Ensemble (Philip Lemke, Judith Nebel, Manuela Brugger, Peter Reisser, Sascha Römisch) sehr geschlossen, mit hoher Energie und viel Charme. Aber was oft komödiantisch leichtfüßig beginnt, verliert durch hartnäckige Wiederholung oder lautstarke Übertreibung seinen Witz.
Das ist schade, zumal der Zugriff auf den Stoff spannend ist, die gesellschaftlichen Strukturen der 50er Jahren mit heutigem Blick klug analysiert werden und die Bilder viel Raum für Assoziationen bieten. Fazit: ein Abend mit viel Diskussionsstoff - und voller berückender Musik.
DK
ZUR PRODUKTION
Theater:
Großes Haus,
Stadttheater Ingolstadt
Regie:
Mareike Mikat
Bühne:
Simone Manthey
Kostüme:
Franziska Isensee
Musik:
Wencke Wollny
Vorstellungen:
8., 11. und 30. Dezember
150 Minuten, eine Pause
Kartentelefon:
(0841) 30547200
Anja Witzke
Zu den Kommentaren