Ingolstadt
Feydeau auf Speed

Premiere im Ingolstädter Studio: "Lauf doch nicht immer splitternackt herum" ist Hochleistungssport für die Schauspieler

09.12.2018 | Stand 23.09.2023, 5:20 Uhr
Virtuose Sprach- und Körperartistik: Olaf Danner, Teresa Trauth, Enrico Spohn, Jan Beller und Matthias Zajgier im Studio. −Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Eigentlich ist das Stück in wenigen Sätzen umrissen. Der Abgeordnete Ventroux träumt von einer Politikerkarriere. Staatspräsident, ja, das wäre er gern. Dafür benötigt man nicht nur einen perfekten Leumund, sondern auch eine Familie, die über jeden Zweifel erhaben ist.

Dumm nur, dass Ventroux' Gattin Clarisse ihren eigenen Kopf hat, stets sehr direkt ist und vor allem die Angewohnheit hat, nur leicht bekleidet herumzulaufen, egal ob ihr Sohn, ihr Mann, der Diener oder der Nachbar das mitbekommen. Sie versteht überhaupt nicht, warum Ventroux sich darüber aufregt. Als sie ihm verspricht, wegen des angekündigten Besuches des Bürgermeisters Zurückhaltung zu üben, ahnt man schon, dass das nur schief gehen kann. Aber es kommt schlimmer als gedacht. Clarisse stolpert von einem Fettnäpfchen ins nächste - und zieht in ihrer Naivität ihren verlogenen Ehemann mit ins (politische) Verderben. Denn Autor George Feydeau entblößt letztlich nicht seine halbnackte Heldin, sondern die heuchlerische bürgerliche Politikerkaste.

So weit die Farce von George Feydeau (1862-1921), dessen Komödien und Vaudevilles bis heute weltweit Erfolg feiern - exakt konstruierte Stücke voller Zwischenfälle, Missverständnisse und Wortspielereien, deren Zusammenwirken in Kombination mit strengster Logik und absurdester Komik in abgründigem Witz kulminieren.

Im Studio des Ingolstädter Herzogskasten hatte am Freitagabend Feydeaus Farce "Lauf doch nicht immer splitternackt herum" unter der Regie von Miguel Abrantes Ostrowski Premiere. Wenn am Schluss die Schauspieler wie in einer Live-Schalte "abgeben ins Forum Romanum", dann tost schon ins Black hinein Applaus, Applaus, Applaus für diese fabelhaften Schauspieler, die rund 75 Minuten lang in atemberaubender Geschwindigkeit Pingpong-Dialoge abfeuern und sich dazu in einem skurrilem Körperballett drehen, wiegen, biegen, beugen. Nach diesem Kraftakt sind nicht nur die Kostüme total durchgeschwitzt.

Komödie, das ist für Regisseur Ostrowski Hochleistungssport. Er finde es spannend, "wenn tolle Schauspieler in einem rasanten Tempo sich um Kopf und Kragen spielen, für das Publikum schwitzen und beinahe Artistik vollbringen", verrät er im Interview, das im Programmheft abgedruckt ist. Letzteres bringt übrigens Erhellendes über Stück und Autor und vor allem die Rolle der Frau zu Feydeaus Zeiten. Ostrowskis Satz ist eine ziemlich genaue Beschreibung dessen, was den Zuschauer im Studio erwartet: Highspeed in jeder Beziehung.

Zunächst mal hat Ostrowski den Text modifiziert, mit Versprechern, Zitaten und Assoziationen in den verschiedensten Variationen angereichert. Da sagt der Abgeordnete, der hier nicht Ventroux, sondern Jean-Paul Boullion d'Artagnan heißt, zu seiner "Clari Clara Clarissa" etwa "meine Bestie" statt "meine Beste". Und im Streit um den Sohn heißt es nicht "Fleisch von meinem Fleisch", sondern dann wird theatral die Bühne in rotes Licht getaucht und obszön "Fleisch und Fleisch gesellt sich gern" gestöhnt, um gleich danach "Fleisch ist Fleisch" auf die Melodie des Opus-Hits "Live Is Life" zu trällern.

So funktioniert das Prinzip des Textes: Assoziationen aus allen Bereichen werden hier in die Sprechduelle eingefügt, musikalische Zitate (von Grönemeyer bis zur Zauberflöte), filmische (von "der Becher mit dem Fächer" aus dem "Hofnarr" bis zu den Gute-Nacht-Ritualen der "Waltons"), literarische, Sprichwörter, Dada, Gaga, Alliterationen, Assonanzen, alles, was sich reimt sowieso. Kunstvoll ist das gemacht - und mit irrwitzigem Tempo und höchst präziser Sprechvirtuosität dargebracht. Regisseur Ostrowski verfügt über ein exzellentes Schauspielensemble: Im Zentrum Enrico Spohn, der als scheinheiliger Abgeordneter wahrhaft eine Sensation ist. An seiner Seite eine famose Teresa Trauth als seine überspannte Gattin. Entzückend Neuzugang Jan Beller als gewitzter Diener, der sich als wahres Sprachenwunder entpuppt. Olaf Danner und Matthias Zajgier als Bürgermeister und Journalist kennt man sowieso als sehr präzise agierende Schauspieler. Das komisch Manierierte können sie auch. Eine tolle Truppe also.

In tollen Outfits. Denn Cátia Palminha hat ihnen Körperkostüme geschneidert: fleischfarbene Ganzkörperanzüge, die mal hier, mal dort ausgestopft sind, und deren Anmutung von Nacktheit mit hübschen Accessoires verstärkt werden: Gamaschen, Krawatten samt Kragen oder Weste für die Herren, Rüschen für die Dame. Das macht natürlich etwas mit den Figuren - und Regisseur Ostrowski setzt diese Frivolität aberwitzig mehrdeutig in Szene.

Von Bühnenbildner Maximilian Lindner hat er sich großformatige Bilder anfertigen lassen (von Miss Piggy als Mona-Lisa-Lookalike bis Courbets "Ursprung der Welt" - allesamt verpixelt), die den Akteuren als Spielmaterial dienen: als Staubsauger, als Zimmerwände, als Cabrio, Pferd, Ausweis. Und das sind eigentlich die schönsten Momente der Inszenierung - wie überraschend die Schauspieler damit umgehen. Die sprachliche Komik - so perfekt sie in Szene gesetzt ist - nutzt sich bald ab. Und so sehr man diese Highspeed-Performance der Schauspieler auch bewundern muss, so ist man am Ende als Zuschauer einfach überfordert. Kaum ein gerader Satz, immer gibt es noch eine Wendung, noch eine Erwiderung, noch eine Verdrehung, noch groteskere Situationen. Alles gesagt, aber noch nicht von jedem. Unter all diesem Bombast geht die Geschichte verloren.

Und auch wenn der nicht enden wollende Applaus zeigt, dass die Leistung der Schauspieler, ihre meisterhafte Entäußerung gewürdigt wird, so wird doch eins deutlich: Jedermanns Humor ist das nicht.

ZUM STÜCK
Theater:
Studio im Herzogskasten
Regie:
Miguel Abrantes Ostrowski
Bühne:
Maximilian Lindner
Kostüme:
Cátia Palminha
Läuft bis:
28. Februar 2019
Kartentelefon:
(0841) 30547200

Anja Witzke