Ingolstadt
"Familienzusammenhalt ist bei Russen größer"

Ingolstadts bekannter Aussiedlerpfarrer Helmut Küstenmacher und seine Sicht auf die Proteste auf dem Rathausplatz

29.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:15 Uhr

Er kennt die russische Seele gut: Aussiedlerpfarrer Helmut Küstenmacher im Gespräch mit Praktikantin Julia Kozhurova im Büro der evangelischen Aussiedlerarbeit (oben). Am vergangenen Sonntag demonstrierten mehrere Hundert Russischstämmige und Russlanddeutsche auf dem Rathausplatz (links). - Fotos: Brandl, Eberl

Ingolstadt (DK) Aus dem Umfeld der russischstämmigen Bevölkerung und der Deutschen aus Russland in Ingolstadt ist es in den letzten Tagen öfter zu hören: Nicht allein der Vorfall in Berlin sei für den öffentlichen Protest auf dem Rathausplatz vom vergangenen Sonntag - der auch in vielen anderen Städten stattgefunden hat - ausschlaggebend gewesen.

Vielmehr sei es so, dass sich die in Deutschland lebenden Russen und Russlanddeutschen einmal politisches Gehör verschaffen wollten.

Der Auslöser: Mitte Januar war die 13-jährige Tochter einer russlanddeutschen Familie als vermisst gemeldet worden. In russischen Medien wurde daraufhin in reißerischer Aufmachung über eine angebliche Vergewaltigung des Mädchens, vermutlich durch Flüchtlinge, berichtet. Dies sorgte für Aufregung unter den hier lebenden Russen, was in die Protestaktion mündete. Gestern meldete die Staatsanwaltschaft Berlin, dass das Mädchen die Nacht auf den 12. Januar wegen Schulproblemen bei einem 19-jährigen Freund verbracht habe. Eine Vergewaltigung hatten die Ermittler bereits vor diesen neuen Fakten ausgeschlossen. Der russische Außenminister hatte den deutschen Behörden daraufhin Vertuschung vorgeworfen.

In den politischen Gremien und im gesellschaftlichen Leben seien die hier lebenden Russen nur wenig verankert. Das weiß Helmut Küstenmacher (73), evangelischer Aussiedlerpfarrer und Gründer der evangelischen Aussiedlerarbeit in Ingolstadt. Er verfügt über sehr gute Einblicke in die Mentalität russischer Migranten und hat auch das Land mehrfach besucht. Dass diese Menschen Angst um ihre Kinder haben, was sie am Rathausplatz lautstark kundtaten, ist für ihn nachvollziehbar. "Der Familienzusammenhalt ist bei den Russen größer", sagt er. Und damit auch die Sorge um den Nachwuchs. "Das hat einfach ein Ventil gebraucht", erklärt er die Proteste. In der Siedlung der Aussiedlerarbeit an der Permoserstraße, die latent als sozialer Brennpunkt gilt und in der viele russischstämmige Familien wohnen, hat er das schon erlebt. Von dort sei einmal eine Familie aus Sorge um die heranwachsende Tochter weggezogen. "Wir leben sehr sicher in Ingolstadt", betont der Theologe. "Aber das ist eben eine andere Art von Angst, wie sie jeder Vater und jede Mutter kennt."

Positiv überrascht war er darüber, dass die Kommune und die restliche Bevölkerung derart besonnen auf den Protest am Rathausplatz reagiert und die Stadtverwaltung sich am nächsten Tag gesprächsbereit gezeigt habe. Zwar könne er die Meinung der Demonstranten zur Flüchtlingssituation nachvollziehen (Diese forderten mit Unterschriften einen Aufnahmestopp von Asylbewerbern). "Wir können diese Menschen aber nicht zurückweisen und auch keine Zäune bauen", so Küstenmacher. Er sei jedoch dafür, dass die Politik dafür Sorge trage, dass die Leute aus ihren Heimatländern nicht mehr fliehen müssen. Küstenmacher würde sich zudem wünschen, dass Russen eine größere Rolle im gesellschaftspolitischen Leben spielten. "Ich habe von einem Russlanddeutschen noch nie einen Leserbrief gelesen", merkt er an.

Julia Kozhurova arbeitet derzeit als Praktikantin bei der evangelischen Aussiedlerarbeit. Die russischstämmige 17-Jährige, die 2001 mit ihrer Mutter nach Deutschland kam, hat sich an der Demonstration nicht beteiligt. In der Familie und im Freundeskreis war das Thema, auch wenn nicht viel darüber geredet worden sei, wie sie einräumt. "Es ist für mich schon verständlich, dass sie sich äußern wollten", sagt Julia und begründet das mit der Sorge um die Kinder. "Diese Angst haben aber nicht nur Russen, sondern auch andere."

"Große Gelassenheit" unter der weiblichen russischstämmigen Belegschaft habe dagegen beim Ingolstädter Cateringsozialunternehmen Cantina International geherrscht, bestätigt dessen Leiterin Karoline Schwärzli-Bühler. Die Mitarbeiterinnen würden zwar über das Thema nachdenken, Panik oder Angst, nachts das Haus nicht mehr verlassen zu können, herrsche aber keinesfalls, sagt sie.