"Falsch gefühlte Kriminalitätstemperatur"

22.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:32 Uhr

Hannover (DK) Der Griff zur Axt als letzter Ausweg? Eskaliert die Gewalt in Beziehungen, kommen Tötungsdelikte häufiger vor als früher? Gabriele Ingenthron sprach darüber mit Christian Pfeiffer, dem renommierten Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.

Herr Pfeiffer, der Griff zum Beil erscheint extrem brutal. Haben Beziehungsdramen in deutschen Familien zugenommen?

Christian Pfeiffer: Gott sei Dank haben wir in Deutschland weniger Schusswaffen in den Häusern als zum Beispiel in den USA. Der Griff zum Beil ist aber schlicht naheliegend, wenn man vom Tötungswillen beseelt ist. Der Eindruck trügt, wir hätten häufiger mit Tötungsdelikten zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: In den letzten 15 Jahren sind die Totschlagsdelikte um ein Drittel zurückgegangen. Noch stärker ist der Rückgang bei Mord.

Eine verblüffende Erkenntnis. Woher entsteht dann der Einruck, Beziehungsdramen hätten zugenommen?

Pfeiffer: Unser Zugang zu Kapitaldelikten hat sich verändert. Wo immer etwas passiert, wird darüber berichtet. Die Berichterstattung über Mord und Totschlag hat sich bei den Privatsendern versechsfacht und in den öffentlichen Anstalten verdreifacht. Unsere Einschätzung beruht auf der Grundlage von Bildern, die wir gesehen haben. Das ist aber eine falsch gefühlte Kriminalitätstemperatur.

Wie kommt es zum Rückgang der Tötungsdelikte?

Pfeiffer: Das liegt an der Vergreisung der Republik, das fördert die innere Sicherheit.

Und der Rückgang bei den Beziehungstaten?

Pfeiffer: Die Eskalation von Gewalt in Beziehungen ist überall dort geringer, wo die Scheidungsraten höher sind. Wo man früher auf immer und ewig zusammengepfercht war, gibt es heute einen Ausweg, die Trennung. Die Scheidung erscheint dann als Notmittel gegen die Kulminierung des Konflikts.

Wann eskaliert ein Beziehungskonflikt?

Pfeiffer: In der Regel dann, wenn ein Trennungskonflikt nicht gelöst werden kann. Männer töten, wenn sie die Frau um keinen Preis gehen lassen wollen, Frauen töten dann, wenn jemand sie nicht gehen lassen will und sie emotional keinen anderen Ausweg sehen. Frauen töten in der Regel aber seltener, das Verhältnis ist etwa eins zu sieben. Ein Suizid nach der Tötung des einst geliebten Menschen kommt in beiden Fällen aber häufig vor.