Nürnberg
Erotische Dauerspannung

"A sort of . . . Bolero": Choreografien von Mats Ek und Johan Inger überzeugen am Staatstheater Nürnberg

23.04.2012 | Stand 03.12.2020, 1:34 Uhr

Nürnberg (DK) Entwicklung bedeutet, in neue Räume vorzudringen, Türen zu durchschreiten, Wände zu überwinden. Der zweiteilige Tanzabend „A sort of . . . Bolero“, der jetzt am Staatstheater Nürnberg Premiere hatte, nimmt das ganz wörtlich: Sowohl „Walking Mad“ von Johan Inger als auch „A sort of . . .“ von Mats Ek arbeiten mit einer fahrbaren Bretterwand als zentralem Bühnenbildelement. Was sich davor, darauf und drum herum abspielt, addiert sich ziemlich bruchlos zu einem Mosaikbild menschlicher Beziehungen: verspielt, melancholisch, grotesk, traumverloren, mitunter brutal, häufig anrührend und immer sehenswert. Ein Verdienst nicht zuletzt des bestens gelaunten und technisch souverän agierenden Nürnberger Balletts, das am Ende im fast ausverkauften Opernhaus wohlverdienten Jubel ernten durfte.

Ein assoziativer Bilderbogen zum uralten, stets aktuellen Thema Mann und Frau: Das ist Johan Ingers 2001 uraufgeführtes „Walking Mad“. Pubertäres Sich-Ausprobieren voller Angst und Neugier, Begehren und Erfüllung, Sehnsucht nach Nähe, Drang nach Freiheit: In gerade mal 30 Minuten blättert Inger das ganze emotionale Spektrum rund um Liebe und Sexualität auf. Unschuldig-neckendes Teenagerspiel, eine Horde Testosteron-getriebener Jungs mit clownesken Kegelhütchen. Eine junge Frau (Sophie Antoine), die selbstbewusst ihr sexuelles Ego entdeckt, ein junger Mann (Max Zachrisson), der nicht weiß, wohin mit seinen Trieben: Ingers Choreografie arbeitet mit der urtümlichen Energie körperlicher (Inter-) Aktion. Tür auf, Tür zu: Das neunköpfige Ensemble in schlichter Straßenkleidung (auch Bühne und Kostüme: Inger) wirft sich gegen die Wand, erklimmt sie in gewaltigem Sprung, schubst und zerrt sich, stemmt sich gegenseitig in die Höhe, rennt und zappelt, bis schließlich die ganze Wand umfällt. Rasendes Tempo, viel detailreiche Partnerarbeit: Ingers zeitgenössische Bewegungssprache ist so ästhetisch wie athletisch. Maurice Ravels „Bolero“ mit seinem verhalten treibenden Rhythmus und der sich aufbauenden Dynamik macht die erotische Dauerspannung auch musikalisch spürbar; Arvo Pärts „Für Aline“ öffnet schließlich den Klangraum für Verletzlichkeit und Intimität.

Zeitweise zart kommt auch Mats Eks schon 1997 uraufgeführtes „A sort of . . .“ daher. Vor einer gelben Wand ein schlafender Mann in rosa Mantel (Ausstattung: Maria Geber). Eine Frau in braunem Anzug steigt aus dem Publikum auf die Bühne. Im geschützten Raum entspinnt sich eine spielerisch-naive Beziehung. Da blitzen hinter einer Türöffnung Streiflichter des Lebens „draußen“ auf, ein Koffer signalisiert: Nichts kann so bleiben, wie es war. Was nun kommt: ein Traum, eine Reise? Hetze, Kampf, Lärm, Exaltation: groteske Straßenszenen, theatrale Reizüberflutung zum minimalistisch hämmernden Cembalokonzert Henryk Góreckis. Dazwischen lyrische Momente des Kindheitsabschieds, ein einsamer roter Luftballon fliegt. Ein zweites Paar: Ausgelassenes Spiel, behutsames Füreinander, Insel der Harmonie, bevor die Szenerie ins Bedrohlich-Brutale umschlägt. Böse Männer lassen Schwangerschaftsbäuche und Genitalien wie Luftballons platzen. Spasmen der Verzweiflung. Das ganze Ensemble tobt und windet sich, liegt schließlich am Boden. Der Versuch des ersten Paares, die durch die Welt bedrohte Innigkeit zu retten, scheitert. Was bleibt? Ein Schlaf, ein Koffer, ein Kleidertausch. Inger und Ek an einem Abend: Das ist so naheliegend wie künstlerisch überzeugend. Lange für dieselben Compa-gnien (Cullberg Ballet, Nederlands Dans Theater) tätig, gibt es zwischen beiden stilistisch wie inhaltlich Verbindungen und Parallelen. Mit der klaren und originären Bildsprache, den tief durchdrungenen elementaren Themen und der jeweils ganz individuellen choreografischen Handschrift kommen beider Arbeiten in der Nürnberger Interpretation einmal mehr frisch und zeitlos daher.

Nächste Vorstellungen: 9., 11., 25. Mai, 1., 21. Juni, jeweils 20 Uhr; 24. Juni 19.30 Uhr. Karten unter (0 18 05) 23 16 00.