Erdogan nicht zu stoppen

Kommentar

22.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:30 Uhr

Die Chance ist verpasst. Die Nacht des 15. Juli, als in der Türkei ein Militärputsch scheiterte, hätte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu einem neuen Atatürk erheben können. Dieser Titel - Vater der Türken - war dem bis heute verehrten Begründer der Republik Türkei, Mustafa Kemal Pascha, 1934 vom Parlament verliehen worden. Noch bevor die Kämpfe entschieden waren, erfuhr Erdogan eine Welle der Unterstützung wie noch nie in seiner Amtszeit. Das ganze Land zeigte sich geschlossen gegen die Putschisten und für seinen Präsidenten.

Hätte Erdogan diesen Moment der Einheit genutzt, um seinerseits auf bislang bekämpfte Gruppen zuzugehen, Dissidenten aus den Gefängnissen zu entlassen und Grundrechtsbrüche der Vergangenheit zu revidieren, der Präsident wäre einer der ganz Großen gewesen.

Doch stattdessen verkündete Erdogan die ganz große "Säuberung", an deren Ende nur eine gespaltene, wenn nicht zerrissene Türkei stehen kann. Er startete eine wahre Hexenjagd gegen die Anhänger des konservativen Sufi-Predigers Fethullah Gülen, die eine "geheime Parallelstruktur" im Land errichtet haben sollen.

Da die Gülen-Bewegung aber keine Mitgliederausweise oder Teilnehmerlisten kennt, kann grundsätzlich jeder Missliebige als Teil der ominösen Verschwörung denunziert werden. Könnte es für einen Möchtegern-Despoten ein wirksameres Disziplinierungs- und gefährlicheres Herrschaftsinstrument geben? Die maßlose Propaganda gegen Gülen begründet zusammen mit der erschreckenden Verhaftungsorgie der vergangenen Tage und dem skrupellosen Umgang mit Medien und Justiz in der Vergangenheit tatsächlich massive Sorgen um die Zukunft der Türkei. Doch wie kann der Westen Erdogan bremsen, sollte sich sein Versprechen, Demokratie und Grundrechte zu wahren, als hohl erweisen? Jede Kritik am Ausnahmezustand in der Türkei fällt in sich zusammen, da Frankreich seit acht Monaten im Ausnahmezustand ist - eben erst wurde er bis 2017 verlängert - und sich niemand daran stört. Begründet wird das in Paris damit, dass die Polizei nur so wirksam gegen Schwerverbrecher vorgehen könne. Was die Frage aufwirft, was die französische Polizei eigentlich davor getan hat.

Stattdessen spukt derzeit als Druckmittel durch die Diskussion, der Türkei die EU-Mitgliedschaft zu verwehren. Aber ist Ankara überhaupt noch daran interessiert? Schließlich wurde die Türkei seit vielen Jahren unter entwürdigenden Bedingungen hingehalten. Konservative in der EU hatten die Brüsseler Zusagen nie ernst genommen. Kanzlerin Angela Merkel etwa hatte ihr Nein zur Türkei erst revidiert, als sie das Land als Nothelfer in der Flüchtlingskrise benötigte - in der die EU-Partner jede Solidarität verweigerten.

Aber nicht nur hier braucht Europa die Türkei weit mehr als die Türkei Europa. Auch beim Kampf gegen die Terrormiliz IS und bei der Suche nach einer Lösung des Syrienkonfliktes geht es nicht ohne Ankara. Westliche Politiker sollten sich also davor hüten, Erdogan irgendwelche "roten Linien" aufzeichnen zu wollen. Denn was ist, wenn er sie überschreitet?

In wohlverstandenem Eigeninteresse muss der Westen die Türkei umgarnen, etwa durch Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen und im Übrigen auf eine schrittweise Liberalisierung der Politik Erdogans hoffen. Leere Drohungen helfen gegen einen Machtmenschen gar nichts.