München
"Enthauptungen" für sechs Euro

Der zweitälteste Betrieb auf dem Oktoberfest, das Varietétheater Schichtl, feiert 150. Geburtstag

23.09.2019 | Stand 23.09.2023, 8:42 Uhr
Patrik Stäbler
Jedes Jahr strömen um die 10000 Besucher in die Vorstellungen: Manfred Schauer, der das Schichtl-Theater als vierter Intendant seit 1985 leitet, zeigt ein Foto aus den Anfängen vor 150 Jahren (links). Eine der bekanntesten Nummern der Show ist die "Enthauptung einer lebendigen Person auf offener, hell erleuchteter Bühne mittels Guillotine". −Foto: Stäbler

München (DK) Wie auf Knopfdruck saust das Fallbeil der Guillotine hernieder, ein dumpfer Schlag ertönt, und schon ist eine weitere Freiwillige enthauptet.

Wobei: So ganz freiwillig ist die Frau vorhin nicht auf die Bühne gestiegen, hier im "internationalen Provinztheater" beim Schichtl auf dem Münchner Oktoberfest. Aber ein Besucher pro Vorstellung muss eben herhalten, um die Tradition zu wahren - und so hat sich die zunächst Zögernde dann doch hinaufgewagt, um auf der Bühne ihren Kopf zu lassen.

Seit 1872 bekommen die Zuschauer beim Schichtl die "Enthauptung einer lebendigen Person auf offener, hell erleuchteter Bühne mittels Guillotine" geboten - eine Umschreibung, die viele Münchner im Schlaf aufsagen können. Gleiches gilt für den Werbespruch "Auf geht's beim Schichtl", der schon vor langer Zeit zum geflügelten Wort in der Landeshauptstadt geworden ist.

Das "Original-Zauber-Spezialitäten-Theater" von Gründer Michael August Schichtl gastierte bereits 1869 erstmals auf dem Oktoberfest, weshalb der zweitälteste Betrieb auf der Wiesn nach der Festhalle Schottenhamel heuer seinen 150. Geburtstag feiern kann. Inmitten der blinkenden und dröhnenden Hightech-Fahrgeschäfte, die immer noch höher und noch schneller werden, wirkt das Varietétheater zwar wie aus der Zeit gefallen. Jedoch strömen Jahr für Jahr um die 10000 Besucher in die täglich rund 20 Vorstellungen - sechs Euro kostet der Eintritt für Erwachsene, Kinder zahlen die Hälfte.

Dabei stand der Schichtl 1985 schon mal kurz vor dem Aus, weil kein Schausteller das Theater von der langjährigen Besitzerin Franziska Eichelsdörfer übernehmen wollte. Doch dann trat ein Mann auf den Plan, der heute allerorts nur als "der Schichtl" bekannt ist: Manfred Schauer. Er übernahm das Theater zunächst mit einem Kompagnon; seit 1999 führt er es alleine. Schauer ist der vierte Prinzipal im Schichtl und hat seit 34 Jahren keine Wiesn und keine Vorstellung verpasst. "Ich bin damals wie die Jungfrau zum Kinde zum Schichtl gekommen", erzählt der 66-Jährige, der zuvor einen Tannengroßhandel in der Münchner Großmarkthalle geführt hatte. "Bei meiner ersten Hinrichtung habe ich keine Ahnung gehabt. Hinterher wollte der Delinquent Schadensersatz, weil er einen Blutfleck auf seiner Jacke hatte. Doch so viel Geld hatten wir gar nicht in der Kasse."

Schauer alias Schichtl ist ein Sprücheklopfer vor dem Herrn. Zwölf Stunden steht er täglich vor seinem Zelt, kommentiert das aktuelle Tagesgeschehen mit derbem Humor und im tiefsten Bairisch - und versucht, die vorbeischlendernden Wiesn-Besucher mit Kalauern, Bonmots und Zoten in sein Varietétheater zu locken. Sobald genug Zuschauer ihren Weg hinein gefunden haben, ruft er: "Wir wär'n dann so breit" - und los geht die etwa 15-minütige Vorstellung. Sie wird von zehn Darstellern nebst Schauer selbst aufgeführt und ist ein leicht kruder Mix aus Musik, Tanz, Akrobatik und Clownerie. Und dann ist da natürlich das große Finale: die gespielte Enthauptung durch Henker Ringo, der in den vergangenen Jahrzehnten auch unzählige Promis von Rainhard Fendrich über Ex-Oberbürgermeister Christian Ude bis hin zu Ottfried Fischer um einen Kopf kürzer gemacht hat.

Spötter attestieren der Show - und den Schauer'schen Sprüchen - den Tiefgang einer Gummiente, was sich in der Humorbranche generell aber nicht zwingend nachteilig auf den Erfolg auswirkt. Für andere dagegen ist der Schichtl gelebte Tradition und ein Stück echte Wiesn, das es unbedingt zu erhalten gilt. Allein von seinem Varietétheater könnte Manfred Schauer indes kaum überleben. Und so gestattet ihm die Stadt München seit 2001, neben dem Theater ein kleines Wiesnzelt mit rund 300 Plätzen aufzubauen - das Wirtshaus im Schichtl, wo ökologisch produzierte Lebensmittel der Herrmannsdorfer Landwerkstätten auf den Tisch kommen.

Manfred Schauer ist demnach nicht nur Wiesn-Schausteller, sondern er gehört auch zum Kreis der 21 Wirte, die ein kleines Zelt ihr Eigen nennen. Wie lange man ihn noch auf dem Oktoberfest sehen wird? Auf diese Frage antwortet der 66-Jährige zuverlässig in bester Schichtl-Manier: "Ich höre auf im Herbst - 2083."

Patrik Stäbler