"Emotionen sprechen deine Muttersprache"

23.12.2008 | Stand 03.12.2020, 5:19 Uhr

Integrationslotsin Maria Hoffart steht Menschen mit Migrationshintergrund mit Rat und Tat zur Seite. Gerade jetzt um die Weihnachtstage geben sich Hilfe Suchende im interkulturelle Büro die Klinke in die Hand. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) Es ist sein erstes Weihnachten hinter Gittern: Nikolai (Name von der Redaktion geändert) lebt seit elf Jahren in Deutschland, er wohnte im Piusviertel und hatte Arbeit. Manchmal bereut er es, nach Deutschland gekommen zu sein. "Die Zeit war irgendwie reif dafür. Aber in Russland hätte ich die Kraft gehabt, meine Familie zu halten. Hier war ich zu schwach. Ich glaub’, ich habe hier nicht meinen Platz gefunden und ich werde ihn auch nicht mehr finden."

Integration? Resigniert betrachtet Nikolai die selbst gedrehte Zigarette in seinen nikotingelben Fingern. "Das ist unmöglich. Ich fühl’ mich nicht als Deutscher, obwohl meine Eltern Deutsche waren." Dann seufzt der 45-Jährige schwer: "Was kann ich den anderen geben? Nichts. Keiner braucht mich, keiner will mich. Auch wenn ich eines Tages aus dem Gefängnis komme, werde ich weiter ein Gefangener sein. Ich werde abgestempelt sein. Das fühl’ ich."

Tiefe der russischen Seele

In der Zeit um Weihnachten kann sich Integrationslotsin Maria Hoffart vor Hilferufen nicht mehr retten, ihr Büro in Europan-Haus am Äußeren Buxheimer Weg 46 ist für viele die letzte Zufluchtstätte. Arbeitslose, Mütter von Drogenabhängigen, entlassene Häftlinge – die mit Sorgen Beladenen empfinden Verzweiflung und Hilflosigkeit gerade in diesen Tagen besonders schmerzlich. "Das ist auch die Tiefe der russischen Seele", meint Maria Hoffart, die vor 20 Jahren aus Kasachstan nach Deutschland kam und sich seit zwei Jahren im Rahmen des Projekts Soziale Stadt um die Belange von Migranten kümmert.

In dieser verhältnismäßig kurzen Zeit hat sich die zierliche, energische Frau das Vertrauen jener Menschen erworben, die sich nicht zurechtfinden in einer Welt, die eigentlich ihre Heimat sein sollte. "Diese Menschen haben ihre eigene Welt aufgebaut, aber sobald sie in der deutschen Welt sind, verschließen sie sich", erklärt Hoffart. Integration stößt hier an ihre Grenzen: "Diese Generation verliert sich langsam, versinkt in der Drogenwelt oder in Kriminalität oder will zurück."

Die 50-Jährige weiß, wovon sich spricht, denn sie betreut seit Jahren auf ehrenamtlicher Basis Strafgefangene in der Justizvollzugsanstalt Eichstätt. Bei der Weihnachtsfeier sitzt sie selbstbewusst in der ersten Reihe zwischen dem JVA-Leiter und dem Landrat, und als die Häftlinge in die Kapelle kommen, begrüßen sie viele mit einem Handschlag, der mehr ist als eine höfliche Geste, sondern Ausdruck tiefer Verbundenheit. "Das ist meine Bande: die Russen", flüstert Maria Hoffart, und es schwingt ein gewisser Stolz mit, dem keine Spur von Eitelkeit anhaftet.

Wie viel Ansehen Maria Hoffart in diesem Hause genießt – und zwar bei den Menschen vor und hinter den Gitterstäben – wird deutlich, als auf ihre Vermittlung hin ohne Aufhebens ein Interview mit einem Insassen möglich wird. Nikolai sitzt wegen Diebstahls. Bevor er seine Haft antrat, hat er sich scheiden lassen, erzählt der 45-Jährige mit gesenktem Blick und seufzt. Dieses Seufzen bricht schon eher wie ein Ächzen aus dem gekrümmten Leib.

Einfach nur beschissen

Die Weihnachtsfeier habe ihn etwas ruhiger gemacht, meint er, aber natürlich fühle er sich beschissen, einfach nur beschissen. "Die Familie, das Zuhause, die Gemütlichkeit, all das fehlt uns hier am meisten. Jemand neben dir, den man fühlen kann." Und dann hebt er endlich den Blick und schaut Maria Hoffart an, die seine russischen Worte übersetzt: "Gott sei Dank haben wir Sie. Frau Hoffart ist unsere Verbindung zur Außenwelt, sie ist für uns da und spricht mit uns, ohne uns zu beschuldigen und anzugreifen." Und dann lächelt er kurz: "Wir leben hier drinnen von Montag bis Montag, weil montags immer Frau Hoffart kommt."

Für viele entlassene Häftlinge ist das Büro der Integrationslotsin im Piusviertel wie ein Zuhause. Aber nicht nur die Betroffenen selbst suchen ihre Hilfe, häufig melden sich auch die Familien. Für sie sind es "die Mitleidenden": So wie jene Mutter, deren einer Sohn in der JVA sitzen und derer anderer drogenabhängig ist. "Für diese Frau hat das Leben keinen Sinn mehr, denn sie macht sich wahnsinnige Selbstvorwürfe. Russische Eltern geben sich immer zu 100 Prozent die Schuld, wenn etwas mit den Kindern schief geht. Man ist so erzogen worden, dass man sein Kind nie loslässt."

Immer wieder äußern Menschen auch Selbstmordgedanken. "Die kann man nicht auf die Zeit nach Weihnachten vertrösten", sagt Maria Hoffart, "denen muss man sofort Hoffnung geben, die Angst nehmen und eine Tür in die Zukunft öffnen. Aber langsam sind es zu viele, die solche Gespräche und Unterstützung brauchen. Zurzeit ist die Hölle los, und manchmal glaube ich, keine Kraft mehr zu haben." Die 50-Jährige wünscht sich deshalb zu Weihnachten eines: einen russisch-sprachigen Psychologen. "Oder so eine Art Telefonseelsorge auf Russisch. In anderen Städten gibt es das schon."

Denn eines muss sogar die Integrationslotsin einräumen: "Ich lebe jetzt seit 20 Jahren in Deutschland, und ich bin hier zu Hause. Aber wenn ich emotional werde, versteht man mich hier nicht. Das ist einfach eine andere Gefühlswelt. Emotionen sprechen immer deine Muttersprache."