Erl - Nemorino geht auf's Ganze.
Er wird, um die letzten Moneten für den vermeintlichen Liebestrank aufbringen zu können, Security Guard. Anno 1832, als Gaetano Donizettis "Der Liebestrank" in Mailand uraufgeführt wurde, begann auch am Schauplatz Lombardei die industrielle Revolution und machte Dorfidyllen allmählich nostalgisch. Bei der zweiten Winterpremiere der Tiroler Festspiele kehrte die Regisseurin Dorothea Kirschbaum den Blick, welchen das urbane Mailänder Publikum damals auf das Landleben hatte, um. Alexandre Corazzola setzte auf die Bühne des Festspielhauses im Alpenambiente den Saal eines Kiez-Zentrums. Der Klinkerbau vor dessen Fenstern lässt auf großstädtisches Ambiente schließen, die Kulturfabrik am Prenzlauer Berg scheint in greifbarer Nähe. Hier ist im Bildungs- und Freizeit-Angebot für jeden etwas dabei. Yoga, Speed Dating, musizieren. Die resolute Giannetta ist Chorleiterin und aus der kapriziösen Pächterin Adina wird eine Pianistin mit Barrieren zu den eigenen Emotionen und denen für den Sympathiebolzen Nemorino. Die Location mit dem schmal bestückten Kiosk hat die besten Tage hinter sich. Aber sie bietet Nestwärme und Spaß für die vom Erler Opernchor keck, schrullig und in jeder Tonlage couragiert dargestellten Individuen.
Ein feines Ambiente also für die Liebesgeschichte mit Anlaufschwierigkeiten. Es ist nicht nur die Musik Donizettis, welche diese komische Oper zu einem der beliebtesten Stücke des Belcanto-Repertoires macht, sondern auch die herzige Allerweltsstory. Das akzentuiert Dorothea Kirschbaum, indem sie ein gereiftes Paar dazu erfindet: Adina und Nemorino - sie krank, er zugewandt - kommen nach Jahrzehnten zurück an den Ort, wo sie sich kennen- und zu lieben lernten. Die erinnerte Realität an die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts wird gesteigert und gebrochen, manchmal lässt Jim Hartmann (Licht) Sterne und Discokugel glitzern. Dorothee Joistens Kostüme zeigen, dass dieser Kiez keine reiche Gegend ist. Und bei der überwältigenden musikalischen Leistung fällt es weniger ins Gewicht, dass die Regie keine sonderlich starken Ambitionen für eine plausible Figuren-Charakterisierung entwickelt.
Diese kam umso deutlicher aus dem Orchester, das Sesto Quatrini mit analytischer Sorgfalt und viel Liebe für Donizettis rhythmische Delikatesse durch den Abend leitet. Quatrini ist mit den Augen mehr an den Lippen der Sänger als in der Partitur. Klitzekleine Unebenheiten, bei denen seine bestechende Motorik und intuitives sängerisches Tempo-Feeling zu nur 95-prozentiger Synthese kommen, beschädigen den Eindruck dieser vibrierend sensitiven Donizetti-Experience nicht. Überhaupt ist erstaunlich, wie stilistisch affin und klangschön das Orchester und der von Olga Yanum präparierte Chor sich im Belcanto- wie im spätromantischen Repertoire bewegen. In "L'elisir d'amore" steigern einige musikalische Freiheiten, die feinen Rezitativ-Improvisationen am Hammerklavier und die unprätenziös wirkungsvollen Vokalvariationen das Vergnügen: Barbara Massaro als Giannetta kann ihren von Donizetti etwas stiefmütterlich behandelten Part also aufwerten. Nur Sam Handley, der als Heilpraktiker-Scharlatan Dulcamara mit seinen beiden Wellness-Grazien eigentlich zum Angelpunkt des Geschehens werden müsste, hält nicht ganz mit. Drei Glanzpunkte gibt es: Der Bassbariton Miko? aj Trabka übertrifft das letztes Jahr in "L'occasione fa il ladro" gegebene Versprechen sogar und gibt einen Security-Boss Belcore, der dem ihn in Herzensangelegenheiten ausstechenden Kollegen in nichts nachsteht. Jonathan Abernethy in der Pavarotti-Referenzpartie des Nemorino ist schon die zweite Tenor-Entdeckung dieses Erler Winters: Eine gewinnende Besetzung gegen das Dorftrottel-Klischee, das sich mit nur musikalischen Mitteln nie ganz entkräften lässt. Die Regie lässt offen, ob es sich bei Nemorino um einen Besucher oder sozialen Serviceleister handelt.
Abernethy macht mit seinem Großeinsatz deutlich: "L'elisir d'amore" ist ein Paradefeld für Tenöre, im Idealfall ein Teamplay mit Sopranen. Bernadetta Torre verrät nicht sofort, was für verschwenderische Farbschattierungen in ihrem Belcanto-Sopran stecken, den sie erst mit Adinas zunehmendem Mut, Gefühle zuzulassen, immer imposanter aufblühen lässt. Deshalb macht die hier original, also doppelt erklingende Coda ihrer großen Arie tatsächlich Sinn. Nicht Nemorino mit der Romanze von der heimlichen Träne hat das letzte Wort, sondern Adina. Viel Jubel von einem Publikum, das ab diesem Winter nicht nur zwei, sondern drei Vorstellungen jeder Inszenierung mit erfreulicher Resonanz annimmt. Für den Sommer kündigen Bernd Loebe und sein Team die Premieren "Lohengrin" (ab 10. Juli), Rossinis "Bianca e Falliero" (ab 11. Juli) und Humperdincks "Königskinder" (ab 24. Juli) an.
DK
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