Ingolstadt
Eine Reise in den Prager Frühling

26.08.2018 | Stand 02.12.2020, 15:48 Uhr
Das Prager Fotoalbum: Lange hat Erna Hofmann nicht mehr die Bilder betrachtet, die ihr Mann damals machte. Sie dokumentieren das Ende des Prager Frühlings mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. Das Ehepaar aus Ingolstadt wurde von den Ereignissen überrascht und erlebte mit, wie die Tschechen friedlich für ihre Freiheit kämpften. −Foto: Hofmann/ Schattenhofer

Ingolstadt (DK) Die Hofmanns aus Ingolstadt wollten im Sommer 1968 nur einen Urlaub in Prag verbringen. Doch dann erlebte das Ehepaar hautnah mit, wie Warschauer-Pakt-Truppen die Hoffnung der Tschechen auf Freiheit erstickten. Ihr Fotoalbum von damals ist ein Stück Zeitgeschichte

Die Schwarzweißfotos in dem Album sind nicht verblasst. Ihre Erinnerungen hingegen schon, denn immerhin sind 50 Jahre vergangen. Die Berichte über den Prager Frühling in unserer Zeitung haben Erna Hofmann nachdenklich gemacht. Nun sitzt sie am Wohnzimmertisch und betrachtet aufmerksam die Aufnahmen, die ihr mittlerweile verstorbener Mann Siegfried damals gemacht hat: Straßen und Plätze voller Menschen. Aufmärsche mit Fahnen. Panzer, auf denen Soldaten sitzen und in die Menge blicken. Auf ein Militärfahrzeug hat jemand Hakenkreuze und SS-Runen gemalt und dazu gekritzelt: "Fasisti". Ein Denkmal mit Figuren, denen die Münder zugeklebt sind. Die 81-Jährige schaut und versinkt allmählich in ihren Erinnerungen. Und zugleich wächst in ihr wieder diese Beklemmung, die sie damals empfand, als ihr Mann und sie mittendrin waren - mittendrin im Prager Frühling. Ein Tag im Frieden, so umschreibt Erna Hofmann diese Reise: die aufregendste Reise ihres Lebens.

Ein Tag im Frieden - wie das? Als das Ehepaar aus Ingolstadt am 20. August 1968 in Prag eintrifft, da wirkt die Stadt noch ganz ruhig und friedlich. "Wir fühlten uns sicher, es waren doch alle Pakte unterzeichnet und ratifiziert. Da kann doch nichts passieren." Nur die Kellner im Hotel, das fällt ihnen auf, scheinen etwas nervös zu sein, "einer hat Glas zerschlagen", beschreibt Erna Hofmann die ersten Eindrücke.

Sie starten ihre Besichtigungstour durch die Goldene Stadt: Prager Burg mit Reitertreppe, Karlsbrücke, St. Nikolaus, Goldmachergässchen. Siegfried Hofmann, der spätere Kulturreferent und Stadtheimatpfleger von Ingolstadt, kennt die Sehenswürdigkeiten und die Geschichte der Stadt. So verbringen sie ihren Tag im Frieden.

Nachts jedoch wachen sie auf, geweckt von furchtbaren Geräuschen. "Das sind Panzer", meint Siegfried Hofmann, und er hat recht. "Vielleicht ein Manöver", beruhigt er seine Frau, die heute nur den Kopf schüttelt: "Mein Gott, was waren wir naiv." Am nächsten Morgen gehen sie zum Frühstück. "Die Kellner, das ganze Hotelpersonal, alle hatten verweinte, verquollene Augen." Die Hofmanns erfahren, was passiert in Prag: Die Panzer sind gekommen, die Truppen des Warschauer Pakts eingefallen. Die Ingolstädter überlegen nicht lange: "Wir sind sofort losmarschiert." Den Fotoapparat haben sie wie immer dabei. "Die Tschechen haben uns gewarnt, ihn sicherheitshalber zu verstecken", erinnert sich Erna Hofmann. "Aber sie wollten, dass wir alles fotografieren. Wir haben uns also fest eingehängt und den Fotoapparat in die Mitte genommen. Wir haben uns mehr in die Seitenstraße gedrückt, wo wir sicher waren, aber alles gut sehen konnten."

Sie hören Schüsse, Panzer. "Die sind hintereinander gefahren und hatten die Kanonenrohre auf unterschiedliche Höhen eingestellt. Wenn die Panzer mal stehen geblieben sind, stürmten die Leute auf sie los und bespuckten sie." Doch im Großen und Ganzen verhalten die Menschen sich ruhig, suchen sogar das Gespräch mit den russischen Soldaten. "Die dachten, sie seien schon in Deutschland", erinnert sich Erna Hofmann. "Da ist es uns kalt den Rücken runtergelaufen. Denn wer weiß - vielleicht wollten sie gleich weitermarschieren?"

Und sie weiß auch noch genau, dass viele Tschechen sich dauernd kleine Radios ans Ohr hielten. "Sie hörten die neuesten Nachrichten, und ich glaube auch, dass die Leute aufgerufen wurden, sich friedlich und ruhig zu verhalten, damit die Situation nicht ausuferte." Nur einmal sei es hektisch geworden, nach dem Tod eines Studenten. "Da sind die jungen Leute aufmarschiert, und vorneweg haben sie eine Fahne voller Blut getragen, das von dem Studenten stammte."

Statuen mit zugeklebten Mündern, verkehrt herum gedrehte Verkehrsschilder - "so haben die Tschechen gekämpft, friedlich und mit Köpfchen ", erzählt Erna Hofmann und schmunzelt. "Irgendwie auf die schwejksche Manier." Und ihr Mann fotografiert - hält das Ende des Prager Frühlings fest in bewegenden Bildern. Jemand hat auf Deutsch mit Kreide auf den Gehweg geschrieben: "Die Geschichte ist ein Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit." Feuerwehrwagen, die junge Demonstranten mit Fahnen transportieren. Menschen, die Panzer umringen. Kleine Jungs, die am Fuße eines Denkmals Gitarre spielen und ernst dreinblicken. Bilder, die Erna Hofmann ganz tief in ihrer Erinnerung bewahrt, auch wenn sie das Prager Album seit Jahrzehnten nicht mehr angeschaut hat.

Tag für Tag gehen die Hofmanns ins Reisebüro und fragen, wann wieder Züge nach Deutschland fahren. Denn es könnte ja doch noch gefährlich werden in Prag. Daheim in Ingolstadt hütet die Großmutter die drei kleinen Kinder. "Meine Mutter hatte irrsinnige Angst. Wir dachten nur, Gott sei Dank besitzen wir keinen Fernseher und sie sieht die Bilder aus Prag nicht", sagt Erna Hofmann. "Täglich haben wir versucht, zu telefonieren, aber es funktionierte nicht. Wir haben auch Briefe geschrieben, aber die Postkästen sind übergequollen, weil keiner sie geleert hat."

Nach ein paar Tagen endlich gibt es wieder eine Zugverbindung von einem Vorstadtbahnhof aus. "Uns wollte aber kein Taxifahrer mitnehmen, weil wir Deutsche sind. Also mussten wir mehr als zwei Stunden in der Hitze zum Bahnhof laufen und die Koffer schleppen. Die hatten damals ja noch keine Räder."

Erna Hofmann klappt das alte Fotoalbum zu und schaut traurig auf: "Die Tschechen wollten doch nur ein bisserl Freiheit, und dafür sind sie überfallen worden. Wir konnten damals in Prag nur zuschauen und für sie hoffen." Zurück in Ingolstadt meinte ihr Mann damals: "Das war ein historischer Moment, den wir erlebt haben." Ein Tag in Freiheit. Und die aufregendste Reise ihres Lebens.