Eichstätt
Eine neue Ära in der Erdgeschichte

Klimaforscher Hartmut Graßl spricht beim Dies Academicus der Katholischen Universität über den Klimawandel

09.12.2015 | Stand 02.12.2020, 20:27 Uhr

Foto: Dagmar Kusche

Eichstätt (HK) Er ist einer der bekanntesten Klimaforscher der Welt und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Und er ist Protestant. Dennoch mahnte ausgerechnet er mit erhobenem Zeigefinger seine Zuhörer, die zweite Enzyklika von Papst Franziskus, „Laudato si“, beim Wort zu nehmen: Professor Hartmut Graßl, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, appellierte in seinem Festvortrag am Dies Academicus der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt vor einer voll besetzten Aula leidenschaftlich an das Umweltgewissen seines Publikums – insbesondere das der zahlreich erschienenen Studenten, welche in den nächsten zehn bis 30 Jahren über die Zukunft unseres Planeten mitentscheiden.

Graßl untermauerte seine zum Teil schockierenden Erkenntnisse zum Klimawandel mit zahllosen wissenschaftlichen Fakten und Tabellen, Grafiken und Prognosen. Dafür brauchte er viele Worte, wie er selber eingestand. Er fand aber genau die richtigen Worte, um seine Zuhörer ohne zu komplizierte Fachterminologie und allzu abgehobenes Expertenwissen betroffen zu machen.

Die Quintessenz seiner Überlegungen: Eine neue, vom Menschen dominierte Ära der Erdgeschichte ist unwiderruflich angebrochen, das sogenannten Anthropozän, denn die Erdbevölkerung wird zwischen 2050 und 2070 ihren Höhepunkt mit etwa neun bis zehn Milliarden Menschen erreichen. Noch nie vorher in der Weltgeschichte dominierte eine Spezies die Erde so deutlich wie der Mensch, der bereits heute mehr Masse auf der Oberfläche der Erdkruste bewegt als alle natürlichen Vorgänge zusammen. Dies hängt vor allem mit der intensiven Nutzung fossiler Brennstoffe zusammen. Der Mensch ist damit global zum wichtigsten geologischen, biologischen und atmosphärischen Einflussfaktor geworden.

Sehr weitsichtig sah dies bereits vor knapp 800 Jahren der heilige Franz von Assisi voraus. In seinem berühmten „Sonnengesang“ (1224/25) wies er unmissverständlich auf den enormen Einfluss eines – damals noch durch Gott garantierten – intakten Klimas auf die gesamte Schöpfung hin: „Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter, durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst.“ Graßl stellte diese fünfte Strophe des Sonnengesangs als Motto vor seinen Vortrag, und die italienischen Eingangsworte dieses Gesangs („Laudato si“) bewegten auch Papst Franziskus 2015 zu seiner eindringlichen, an die Christenheit und die ganze Welt gerichtete Mahnung, die von Gott gegebene Schöpfung zu bewahren.

Der Diplomphysiker und promovierte und habilitierte Meteorologe Graßl erforscht seit mehr als 40 Jahren den drohenden Klimawandel. Insbesondere der in den letzten 250 Jahren enorm angestiegene Ausstoß von Gasen – darunter das schwer abbaubare Kohlendioxid – ist als Hauptursache für die bereits voll im Gange befindliche Klimaerwärmung auszumachen. Diese zu bremsen, sei das erklärte Ziel der letzten UN-Klimakonferenzen gewesen, 2010 im mexikanischen Cancún, wo man das sogenannte Zwei-Grad-Celsius-Ziel festhielt. Auch das Kyoto-Protokoll von 1997 gebe leichten Anlass zu Hoffnung, denn die dort beschlossene Minderung des jährlichen Treibhausgas-Ausstoßes um 5,2 Prozent sei bislang von mehr als 200 Staaten unterzeichnet worden.

Als weiteres Problem stellte Graßl den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels ins Zentrum seiner Überlegungen. Dieser falle in den äquatornahen Regionen deutlich höher aus als in gemäßigten Breiten und zwinge zahlreiche Menschen zur Migration. Generell verstärken sich durch den Klimawandel die Wetterextreme wie Hitzewellen und Dürre oder Sturzfluten. Am Beispiel Syrien, das zwischen 2007 und 2010 eine Rekorddürre erlebte und sogar Weizen importieren musste, zeigte der Klimaexperte auf, wie die dadurch bedingte Massenflucht von mehr als 1,5 Millionen Landbewohnern in die Städte nur zu einer Verstärkung der Unruhe und zur Vorbereitung des Bürgerkriegs beitrugen.

Im Hinblick auf die aktuellen Flüchtlingsströme nach Europa und Deutschland wies Graßl darauf hin, dass bereits 1792 der Königsberger Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant das Recht des Menschen betonte, überall ein Fremdling sein zu dürfen. Der Mensch habe nach Kant auf der Erde nur ein Besuchsrecht, und keiner dürfe sich anmaßen, einen Teil des Planeten nur für sich zu beanspruchen und andere auszuschließen.

Doch nicht nur der Mensch, sondern auch Tiere und Pflanzen leiden unter der Klimaerwärmung, wie Graßl an der Verarmung der biologischen Artenvielfalt belegte: Pro Jahr sterben derzeit nicht weniger als 1000 Tier- und Pflanzenarten aus, da sie in der Regel zu keiner Migrationsbewegung fähig sind. Die Forderung des Experten lautete demnach: 80 Prozent der bislang bekannten fossilen Brennstoffe müssten in der Erdkruste verbleiben, um nicht noch mehr Schadstoffe in die Atmosphäre zu entlassen – eine Forderung, die natürlich keineswegs mit den Interessen der OPEC-Staaten in Einklang zu bringen ist.

Am Ende seines mit Nachdruck vorgebrachten Plädoyers für die Bewahrung der Schöpfung im Anthropozän drückte Hartmut Graßl seine Hoffnung aus, dass man sich in Paris erstmals auf einer Klimakonferenz weltweit innenpolitisch einigen könnte: Allen in Paris versammelten Politikern und Experten legte er nahe, die Worte des Papstes in der Enzyklika „Laudato si“ ernst zu nehmen. Die „Sorge um das gemeinsame Haus“ (so der Untertitel der Enzyklika) sei heute größer denn je.