Eine Nacht im Glück

Kommentar von Christian Fahn

08.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:23 Uhr
Mit dem Fall der Mauer in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 begann der Wiedervereinigungsprozess des geteilten Landes. Seit dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland wieder vereint. −Foto: dpa

Diese Nacht machte die Deutschen zum glücklichsten Volk der Welt.

Als die Mauer fiel, lagen sich wildfremde Menschen in den Armen, diejenigen, die nicht da waren, weinten daheim vor dem Fernseher. Es war die Nacht, in der viele in Deutschland das erste Mal in ihrem Leben den Atem der Geschichte spürten. Selbst jetzt, 30 Jahre später, ist die Gänsehaut wieder da, wenn wir die Szenen von damals noch einmal sehen.

Das große Glück verschwand allerdings ziemlich schnell: Der dramatische wirtschaftliche Verfall im Osten, das Ende Tausender Betriebe, der Verlust von unzähligen Arbeitsplätzen - all das bestimmte das Bild der folgenden Jahre. Und es traf Millionen in den neuen Ländern. Viele Familien haben sich davon bis heute nicht erholt. Das ist die Wahrheit und das hat nichts mit Jammern zu tun.

Musste alles so kommen? Viele der Entscheidungen wären mit dem Wissen von heute sicherlich anders gefallen. Aber eben dieses Wissen und diese Erfahrung fehlten damals. Vor allem aber fehlte die Zeit zum Nachdenken, die Zeit, weitreichende Entscheidungen mit der nötigen Sorgfalt zu planen und umzusetzen. Alles verlief in einem atemberaubenden Tempo.

Nicht einmal ein Jahr nach dem Fall der Mauer war Deutschland vereinigt. Ein halbes Jahr später wäre das vielleicht schon nicht mehr möglich gewesen. Doch nicht nur das Weltgeschehen hatte Einfluss auf die dramatischen Entwicklungen. Symptomatisch für den Zeitdruck ist einer der Sätze, die schon wenige Tage nach dem Mauerfall durch die Straßen der Dörfer und Städte der damaligen DDR schallten: "Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr." Einen Massenexodus in den Westen hätten aber weder die DDR noch die Bundesrepublik verkraftet. Was folgte, war die schnelle Einführung der D-Mark, die aber den Niedergang der DDR-Wirtschaft dramatisch beschleunigte.

Auch das gehört zur Wahrheit - genauso wie die Tatsache, dass die Leistung vieler Menschen, die in der DDR lebten und arbeiteten, nicht gewürdigt wird. Selbst wenn die DDR-Wirtschaft letztlich unterging, viele Betriebe lieferten durchaus gute und konkurrenzfähige Produkte, die unter ungleich schwierigeren Rahmenbedingungen entstanden. Das wissen im Westen bis heute wenige. Eine Rolle spielt das allenfalls in Dokumentationen, die in den dritten Programmen zwischen Ostsee und Thüringer Wald laufen.

Doch das ließe sich ändern. Am einfachsten im Gespräch mit Menschen, die einen Teil ihrer Vergangenheit in der DDR verbracht haben. In der Arbeit, im Verein - das Leben hat uns doch längst zusammengebracht. Wir müssen nur miteinander reden wollen. Eines ist sicher: Es wäre interessant und sehr lehrreich.

Möglicherweise erschließt sich dann auch das Glück aus jener Nacht im November 1989 neu. Auch wenn es zerronnen ist, hat es uns ein Erbe hinterlassen: die Freiheit. Diese Freiheit haben die Menschen in der damaligen DDR nicht nur für sich gewonnen. Sie haben sie auch den Menschen im Westen neu geschenkt. Bis zu diesem Tag nämlich galt sie in der alten Bundesrepublik als Selbstverständlichkeit. Seit dieser Nacht wissen wir, dass die Freiheit genau das nicht ist. Sie ist ein unbeschreibliches Glück. Man muss sich ihrer bewusst sein und bereit sein, sie zu verteidigen. Mit aller Kraft und egal gegen wen. Das ist das Vermächtnis des 9. November 1989.

Christian Fahn