Ingolstadt
Eine Bombe unter dem Fliederbusch

In Fred Bräuherrs Garten liegt seit Jahrzehnten ein Blindgänger - wie viele Sprengsätze in Ingolstadt

04.07.2018 | Stand 23.09.2023, 3:38 Uhr
Im Schatten des Apfel- baums liegt laut Fred Bräuherr (oben) ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg. Über Luftbilder ? wie vom Beschuss des Ingolstädter Hauptbahnhofs (unten links) ? hat er davon erfahren. Immer wieder werden solche Sprengsätze entdeckt, zum Beispiel am Pulverl (rechts unten). Bräuherrs Blindgänger wird aber noch eine Weile im Boden bleiben. −Foto: Fotos: Fegert, Hammer

Ingolstadt (DK) Eigentlich wollte Fred Bräuherr nur eine Zypresse ausbuddeln. Am Ende erfuhr er, dass im Vorgarten seines Hauses im Ingolstädter Nordosten ein Blindgänger schlummert. Der Kampfmittelräumdienst wird aber so schnell nicht anrücken.

Wie die Bombe heute aussieht, weiß keiner. Wie viele Zentner Sprengstoff sie hält, wann genau sie hier landete. Zu lange schon, wahrscheinlich seit Beginn des Jahres 1945, liegt sie unbemerkt unter der Erde. Bräuherr weiß nur: Im Vorgarten seines Hauses in der Freytagstraße, gut zwei Meter neben der Einfahrt, da schlummert ein Blindgänger - unter dem Fliederbusch und neben dem Apfelbaum.

Es war reiner Zufall, dass Bräuherr von der Bombe erfuhr. Eigentlich wollte er die letzten dicken Wurzeln einer Zypresse aus dem Boden entfernen. Nicht aber im Vorgarten, sondern gut 20 Meter weiter, hinter dem Haus. Dabei stieß er auf ein festes Betonfundament, das er nicht zuordnen konnte. Die Wurzeln besiegte er nicht - seine Neugier aber setze sich schließlich durch. Er wollte wissen, was da unter seiner Erde liegt und machte sich auf den Weg ins Rathaus. Was es mit dem Beton auf sich hat, das konnte man ihm dort auch nicht sagen. Dafür etwas anderes. "Hoppla", habe der städtische Mitarbeiter mit Blick auf eine Luftaufnahme der alliierten Bomben über der Stadt zu Bräuherr gesagt, "da ist doch was."

Was dieses "was" - ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg - für Folgen haben kann, das weiß Bräuherr nur zu gut. Erst im Mai 2015 mussten er und seine Nachbarn vorrübergehend ihre Häuser verlassen, weil nur wenige hundert Meter weiter, in der Ziegeleistraße, bei Bauarbeiten eine Bombe gefunden und entschärft wurde.

Dass die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg auch den Bereich im Ingolstädter Nordostens aus der Luft beschossen, ist nicht neu. Hans Fegert hat sich in mehreren Büchern mit der Geschichte der Luftangriffe auf Ingolstadt im zweiten Weltkrieg beschäftigt. Daraus geht hervor, dass allein im Jahr 1945 über der Stadt mindestens 13000 Fliegerbomben abgeworfen wurden. Laut Fegert war es wohl einfach Pech, dass das Viertel Ziel der Bomber wurde: "Das war mit Sicherheit keine Absicht. Diese Bomben waren reine Irrläufer, das war nicht strategisch. Vielleicht war der Nebel dicht und so die Sicht schlecht. Vielleicht hat die Navigation falsch gelotst."

Für die Menschen, die damals monatelang angstvoll auf das nächste Grollen am Himmel warteten, war das freilich wenig hilfreich. In Fegerts Buch kommt Zeitzeugin Karoline Schweiger zu Wort. Sie wohnte in der Ziegeleistraße, wäre also heute eine Nachbarin Bräuherrs. Sie schildert in Tagebucheinträgen, wie die Alarme und die Bomben über Monate an ihren Nerven zehren. Sie und ihre Familie schlafen vollständig angezogen, um sich immer schnell auf den Weg in den Luftschutzbunker machen zu können. Die Entfernungen zu den Explosionen werden immer kürzer, irgendwann sind sie so nah, dass im Haus der Schweigers die Kellerfenster zerspringen. Mehrere Bomben treffen das Gelände der Deutsche Spinnereimaschinenbau Aktiengesellschaft (Despag) nur wenige hundert Meter entfernt. Im Februar 1945 schreibt sie, dass sich vom Donnersberger Gut bis nach Oberhaunstadt ein "Bombenteppich" ziehe. Heute ist genau dazwischen Bräuherrs Grundstück.

Der macht sich heute keine Sorgen wegen des Blindgängers unter dem Fliederbusch. Nachdem ein Mitarbeiter der Stadt Bräuherr eröffnete, was da in seinem Vorgarten liegt, habe man ihn beruhigt. Die Stelle sei in einem Eck der Grundstücks, wo auch keine Autos drüberfahren. "Mei, die liegt halt da", sagt der 71-jährige Künstler pragmatisch. Er sei tagtäglich nur ein paar Meter entfernt - wenn er sich da immer Gedanken mache, dann könne er gar nicht mehr ruhig schlafen. Jetzt aber, da in Manching am Flughafen eine größere Evakuierung für eine Fliegerbomen notwendig geworden ist, hat er sich wieder erinnert.

Er wundert sich dabei, dass die Stadt ihn bisher nicht auf die explosive Besonderheit seines Grundes aufmerksam gemacht hat. In den 1950er Jahren kaufte sein Vater das Grundstück noch unbebaut. Als der Sohn 1986 das Elternhaus abriss und neu baute, stellte er einen Bauantrag. Der wurde bewilligt, laut Bräuherr ohne Hinweis auf den Blindgänger nur wenige Meter von der Baustelle entfernt.

Die Stadt macht aus Datenschutzgründen keine Angaben zu diesem konkreten Fall. Stadtpressesprecher Michael Klarner aber verweist darauf, dass die Grundstückseigentümer selbst dafür verantwortlich sind, sich bei einem Verdacht auf Blindgänger um die Beseitigung zu kümmern - sprich, eine Fachfirma zu beauftragen. Eine Luftbildaufnahme könne da nur einen ersten Eindruck vermitteln. Eine Spezialfirma könnte dann die Frage beantworten, ob von dem Fund eine Gefahr ausgeht. Solange der Grundstückseigentümer aber nicht vorhat, auf dem Areal zu bauen, passiere von Seiten der Stadt erst mal nichts. Überhaupt sei die Kampfmittelräumung Sache des Bayerischen Innenministeriums.

Deren Sprecher Oliver Platzer bestätigt, dass in diesem Fall der Grundstückseigentümer nichts tun müsse - so lange die Stadt ihn nicht anweist. Sollte die Kommune - wie es Bräuherr schildert - aber wissen, dass unter diesem Grundstück der Blindgänger liegt und davon möglicherweise eine Gefahr ausgehe, müsse sie aktiv werden. Platzer weiß aber auch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Blindgänger plötzlich detoniert, gegen null geht - vor allem, wenn er tief im Boden liegt. "Die verrostet halt da unten." Im ganzen Freistaat würden noch so einige Blindgänger liegen: "Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch unter dem Marienplatz noch etwas liegt", sagt der Behördensprecher aus München. Allein im Jahr 2016 seien im Freistaat 192 Spreng- und Splitterbomben entschärft worden.

Selbst in der eigenen Nachbarschaft ist Fred Bräuherr nicht allein. Er erzählt, dass bei ihm im Ingolstädter Nordosten wohl auch das angrenzende Grundstück auf einem Blindgänger sitzt. "Mit Sicherheit sind das nicht die einzigen", weiß auch Fegert, "wahrscheinlich würde ich selbst in meinem Garten an der Östlichen Ringstraße auch noch etwas finden."

Sophie Schmidt