Eine Ära geht zu Ende

08.07.2011 | Stand 03.12.2020, 2:38 Uhr

Auftritt Dieter Dorn: In seiner letzten Inszenierung, Kleists „Käthchen von Heilbronn“, trat der Intendant, Regisseur und gelernte Schauspieler auch selbst auf - Foto: Staatsschauspiel München

München (DK) Wenn an diesem Sonntag Dieter Dorn mit einer großen Gala, die bereits nach zehn Minuten im Vorverkauf ausgebucht war, im Residenztheater von allen Mitgliedern des Bayerischen Staatsschauspiels und vom Publikum verabschiedet wird, dann geht zweifellos eine Ära zu Ende.

35 Jahre war Dieter Dorn einer der kreativsten und feinsinnigsten Theaterleiter Deutschlands: Zunächst von 1976 bis 1983 Oberspielleiter, dann bis 2001 Chef der Kammerspiele, bis er nach einer wenig rühmlichen Posse der Münchner Kulturpolitik auf die andere Seite der Maximilanstraße wechselte und schließlich zehn Jahre als Intendant das Bayerische Staatsschauspiel leitete.

Doch er war kein selbstgefälliger oder gar autoritärer Theaterdompteur und kein Regieberserker.

Er plusterte sich nicht auf, sondern war ein Intendant der leisen Töne und ein Regisseur mit einem untrüglichen Gespür für die Sensibilität von Personen und Texten. Vor allem gelang es Dorn im Verlauf von dreieinhalb Jahrzehnten, ein Ensemble mit vielen der besten deutschsprachigen Schauspielerinnen und Schauspieler zusammenzuschmieden und – trotz aller Individualitäten – als eingeschworenes Team sowohl in den Kammerspielen als auch im Residenztheater zu halten. Stars ohne Starallüren darunter, bei deren Namensnennung jeder Theaterfreund ins Schwärmen gerät: Sibylle Canonica, Irene Clarin, Cornelia Froboess, Sunnyi Melles, Jennifer Minetti, Doris Schade, Gisela Stein und viele andere. Dazu Michael von Au, Rolf Boysen, Helmut Griem, Lambert Hamel, Jens Harzer, Thomas Holtzmann, Stefan Hunstein, Romuald Pekny, Edgar Selge und Rudolf Wessely in den männlichen Paraderollen.

In seiner letzten Inszenierung, Heinrich von Kleists geheimnisvoller Liebesgeschichte „Das Käthchen von Heilbronn“, bündelte Dorn in grandiosen fünf Theaterstunden, in denen es den Zuschauern in keiner einzigen Minute langweilig wurde, nochmals alles zusammen, was das Besondere und Faszinierende am Dorn’schen Theater ausmachte und seine Regiearbeit auszeichnete: Das Gesamtkunstwerk aus Verehrung der Dichtersprache und intensiver Personenzeichnung, aus sinnlich-intellektueller Aufklärung und subtilem Witz, aus Poesie und Anmut. Und dies alles in geschmack- und stilvoll komponierte Bühnengemälde getaucht. Eine Bildästhetik hat Dorn damit geschaffen, die stets zum Erlebnis wurde, wenngleich einige Inszenierungen in den letzten Jahren – wie manche Kritiker mäkelten – allzu filigran ausgefallen und in Schönheit erstarrt sind.

Neben Operninszenierungen an der Bayerischen Staatsoper und bei den Salzburger Festspielen brachte Dorn 41 Stücke (meist in den Bühnenbildern von Jürgen Rose) auf die Bühnen der Kammerspiele und des Residenztheaters, von denen nicht wenige in die Theatergeschichte eingegangen sind: Unvergessen die Klassikeraufführungen, etwa von Goethes „Faust“ (mit Sunnyi Melles als Gretchen, Helmut Griem als Faust und Romuald Pekny als Mephisto), Lessings „Minna von Barnhelm“ (mit Cornelia Froboess und Heinz Bennent), „Nathan der Weise“ mit Rudolf Wessely in der Titelrolle oder Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ (mit dem Dioskurenpaar Rolf Boysen als Shylock und Thomas Holtzmann als Antonio). Dazu die großen Dramen der Antike, alles von Kleist, auch manches boulevardesk Angehauchte und einige Uraufführungen seines Lieblingsautors Botho Strauß.

Aber er hat nicht nur selbst inszeniert, sondern in insgesamt 390 Produktionen mit 12 736 Vorstellungen und 7,2 Millionen Zuschauern auch zahlreiche der besten Regisseure engagiert. Thomas Langhoff und Hans Lietzau beispielsweise, George Tabori oder Robert Wilson. Herbert Achternbusch und Franz Xaver Kroetz durften viele ihrer nicht unumstrittenen eigenen Stücke auf die Bühne bringen. Und nicht nur zu Publikumsrennern, sondern geradezu zu Kultaufführungen gerieten unter Dorns Intendanz all die Produktionen (von „München leuchtet“ bis „Offener Vollzug“) von Gerhard Polt und der Biermösl Blosn.

In zwei Büchern ist die Ära Dorn in Bild und Text für die Theaterfreunde von heute und für die Nachwelt dokumentiert. Aber nicht nur der 1935 in Leipzig geborene ungekrönte „Münchner Theaterkönig“ wird am Sonntag das Residenztheater verlassen, sondern mit ihm auch der Großteil der auf Dorn eingeschworenen Schauspielerinnen und Schauspieler. Der neue Intendant Martin Kušej will viele des so hoch gerühmten Dorn-Ensembles nicht übernehmen und einige wollen es ihrem Intendanten auch gleichtun: Abschied nehmen, wenn der Jubel am größten ist – und zur Theaterlegende werden.