Ingolstadt
Ein umstrittener Plan und viele offene Fragen

Die Rückkehr der vierten Klassen in die Schule ist für den 11. Mai geplant, das ist für viele ein Dilemma

30.04.2020 | Stand 23.09.2023, 11:52 Uhr
Abstand, Mundschutz und Plexi-Glas-Scheibe: Unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen - hier an der Ludwig-Fronhofer-Realschule - sind am vergangenen Montag die Abschlussklassen in die Schule zurückgekehrt. Am 11.Mai sollen unter anderem die Grundschüler folgen - ein Entschluss mit Diskussionspotenzial. −Foto: Hammer

Ingolstadt - Die Corona-Krise fordert die Schulen weiter heraus.

 

Seit Beginn dieser Woche sind die Abschlussklassen der weiterführenden Schulen wieder zurück in den Klassenzimmern. Am 11. Mai sollen nun die Schüler folgen, die im nächsten Jahr ihren Abschluss schreiben - und möglicherweise die vierten Klassen der Grundschulen. Letzteres sorgt für Zündstoff.

Einerseits herrscht weiter Ungewissheit, ob es überhaupt dazu kommen wird - Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) will sich erst dann endgültig entscheiden, wenn klar ist, ob das Infektionsgeschehen es zulässt, dass die vierten Klassen wieder in die Schule gehen. Ist dies der Fall, bleiben viele Fragen offen, wie sich der Schulalltag mit den jüngeren Schülern gestalten lässt.

Vorbereitung ohne Vorgaben Schulen und Behörden hängen in der Luft, was die Vorbereitungen für die Rückkehr der Grundschüler angeht, denn momentan fehlen Richtlinien. Karin Leibl, die Kreisvorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnen Verbands (BLLV), hofft, dass das Kultusministerium diesmal frühzeitig Bescheid gibt. Sie sagt: "Es muss einfach möglich sein, in Ruhe etwas zu organisieren und die Rahmenbedingungen vorab zu kennen. " Vor wenigen Tagen erst habe es eine virtuelle Lehrerkonferenz gegeben, aber im Moment sei es schwierig, zu planen. Zumindest, sagt Leibl, könnten Schulleiter überprüfen, wie viele Lehrer für den Präsenzunterricht zur Verfügung stehen - denn nach wie vor bleibt die Frage offen, ob Lehrer, die der Risikogruppe angehören, im Einsatz sein sollen.

Birgit Baumgartner leitet die Grundschule Ringsee. Dort gehöre etwa ein Drittel des Kollegiums zur Risikogruppe. "Das ist ein Wert, der wohl mit anderen Schulen vergleichbar ist. " Daneben sei auch unklar, wie mit Kollegen umzugehen ist, die Familienmitglieder haben, die zur Risikogruppe gehören. Nicht nur bei diesen Fragen brauche es weitere Vorgaben, auch, was den Unterricht im Schichtsystem betrifft. Zu den Hygiene- und Abstandsregelungen sagt Birgit Baumgartner: "Unsere Hoffnung ist, dass wir Erfahrungswerte übernehmen können von Schulen, die schon die älteren Schüler unterrichten. "

Auf Distanz mit Kindern - ein Ding der Unmöglichkeit? Aber gerade das ist die große Frage: Halten sich Kinder genauso an die Abstandsregeln wie die älteren Schüler? Karin Leibl vom BLLV sagt, die Öffnung der Abschlussklassen habe gezeigt, dass es mit den Älteren in der Schule zwar ganz gut funktioniere, viele Lehrer aber erzählten, dass der Drang der Schüler, sich nahe zu sein, immer noch da ist, vor allem, wenn sie das Gebäude verlassen. "Bei den Grundschülern ist es noch schwerer, sie voneinander fernzuhalten. " Leibl glaubt zudem, dass die Lockerungen eine gewisse Normalität suggerierten. Ein Gefühl, das sich auch auf die Kinder übertrage . "Da habe ich die Sorge, dass die Vorsicht nicht mehr so groß ist. "

Maria Frölich ist die Vorsitzende des Gesamtelternbeirats. Sie ist zwiegespalten. Einerseits glaubt sie, dass es machbar ist, die neuen Abstandsregeln mit den Kindern einzuüben, vor allem, wenn die Klassen geteilt sind. Trotzdem sagt sie: "Es befremdet mich, dass sich das Leben jetzt immer auf Distanz abspielt. Kindern kann man diese Nähe nicht so abgewöhnen. Das macht etwas mit dem Sozialgefüge. "

Auch Birgit Baumgartner sieht das kritisch: "Das entspricht einfach nicht unserer Natur. Menschen sind auf Nähe angelegt, gerade Kinder. " Die Art des Unterrichtens werde sich völlig verändern: Normalerweise gibt es Sitzkreise, Partnerarbeit, Gruppenarbeit - "von diesem Wechsel lebt der Unterricht". Nun sollen die Kinder den ganzen Tag fest auf ihrem Platz sitzen, alleine zur Toilette gehen - auch das sei vorher nicht Usus gewesen. Ein Alltag, den sich die Rektorin Birgit Baumgartner noch nicht vorstellen kann und der den Kindern schwer zu vermitteln sei. "Man muss erklären, erklären, erklären. "

Uneinigkeit bei den Jahrgangsstufen Eine Rückkehr in die Schule ist zunächst für die Viertklässler geplant - obwohl die Noten für den Übertritt auf eine weiterführende Schule schon vorliegen. Das sorgt für Unmut bei vielen Eltern. Maria Frölich sagt: "Wenn schon alle Noten feststehen, ist nicht klar, welchem Zweck es dient, dass die Kinder schon jetzt wieder in die Schule gehen. " Karin Leibl vom BLLV versteht diese Sicht: "Aber ich möchte das nicht nur auf den Übertritt reduzieren. Schule ist mehr als nur das. "

Edmund Rieger, der Leiter des Staatlichen Schulamts, stellt die Rückkehr der vierten Klassen ebenfalls in Frage - aus inhaltlicher Perspektive. Wenn überhaupt, sei es sinnvoller, die dritten Klassen zurück in die Schule zu schicken, die den Übertritt noch vor sich haben.

Aus medizinischer Sicht sieht die Sache freilich anders aus. Birgit Baumgartner sagt: "Natürlich macht es Sinn, mit den vierten Klassen anzufangen, weil man ihnen die Regeln am besten erklären kann. " Was die Lerninhalte der vier Jahrgangsstufen angeht, stünden für sie aber ganz andere Schüler im Vordergrund: die Erstklässler: "Die sind jetzt aus ihrem Leselernprozess herausgerissen worden, der für die ersten Klassen so zentral und wichtig ist. Bei uns haben ihnen noch etwa elf Buchstaben gefehlt. " Der Schulleiterin bereitet diese Lern-Unterbrechung große Sorgen, gleichwohl sagt sie: "Medizinisch ist es nicht sinnvoll, die Erstklässler zurückzuholen, weil sie noch so klein sind. "

Die Grundschulen öffnen -die richtige Entscheidung? Ob der Entschluss, die Grundschulen wieder zu öffnen, der richtige ist, will Karin Leibl nicht am Datum festmachen, "weil ich nicht einschätzen kann, wie groß die Gefährdung ist". Dabei habe sie vor allem Lehrer im Blick, die selbst gefährdet sind oder jemanden zu Hause haben, der es ist. Wenn die wieder in die Schule müssten, sei die Angst vor einer Ansteckung groß. Das selbe gelte für Familien mit Risikofällen, die sich fortan an ihrem Kind anstecken könnten. "Trotzdem brauchen wir eine Rückkehr zur Normalität", sagt Leibl. Denn nicht alle Kinder hätten derzeit die gleichen Möglichkeiten, zu lernen, wie andere.

Ein weiterer Aspekt ist das Risiko psychischer und physischer Gewalt zu Hause, das sich während der Ausgangsbeschränkungen erhöht: "Es ist niemand da, der das mitbekommt. "

Maria Frölich vom Gesamtelternbeirat will sich ebenfalls nicht auf den 11. Mai festlegen: "Ich kann da ehrlich gesagt kein eindeutiges Für und Wider abgeben. " Die Belastung der Eltern sei aber durch die Bank sehr groß, vor allem bei denen, die von zu Hause aus arbeiten und dieser Doppelbelastung ausgesetzt sind. "Man merkt einfach, man kommt an seine Grenzen. "

Auch für die Kinder sei es eine unheimliche Belastung: "Weil sie oft nicht verstehen, warum das Lernen nur noch zu Hause stattfindet und nur mit den Eltern. " Sie glaubt, den Kindern mangelt es an Orientierung. "Da fehlt auch das neutrale Korrektiv der Lehrerin. Ich habe eine ganz andere Bezeihung zu meinem Kind. Und ich glaube, diese Rückmeldung von außen ist wichtig. "

Laut Frölich verändere die Isolation die Kinder. Sie höre von vielen Eltern, dass sich die Kinder auffällig oder sogar aggressiv verhalten. "Mein Kind vermisst seine Freunde und seine Lehrerin ohne Ende, möchte jetzt gerne in die Schule gehen und versteht nicht, warum es nicht darf. " Umso länger diese Situation anhalte, desto schwieriger werde sie.

Der Leiter des Staatlichen Schulamts, Edmund Rieger, will nicht spekulieren, ob es eine Rückkehr am 11. Mai geben wird. "Man sollte abwarten, was das Ministerium entscheidet. " Rieger zeigt Verständnis für die Familien, in denen Kinderbetreuung nun zu einem Problem wird. Grundsätzlich ist Rieger aber skeptisch, ob die vierten Klassen wieder zurück in die Schulen gehen sollten. "Wir müssen die Bedingungen abwarten und welche Vorgaben es gibt. "

Birgit Baumgartner sagt: "Wir freuen uns, wenn wir die Kinder wieder sehen. " Den Kindern, glaubt sie, gehe es ebenso. "Im Moment muss aber der Schutz der Gesundheit das Wichtigste sein. " Bis zu einem Wiedersehen bemühe sich die Schule, in Kontakt zu bleiben. "Wir rufen zu Hause an, schreiben Briefe, einige Kolleginnen sind sogar schon mit der Radl bei den Familien vorbeigefahren. "

Ausblick - Einschulungen 2020Aus der Konferenz der Kultusminister der Länder hieß es zu Beginn dieser Woche, dass alle Schüler bis zu den Sommerferien zumindest tage- oder wochenweise wieder die Schule besuchen sollen. Normalität bedeutet das vorerst trotzdem nicht. Nun werden die ersten Stimmen laut, die zweifeln, ob eine Einschulung im September möglich ist.

Karin Leibl sagt: "Die Sorge ist da, aber ich möchte gar nicht absehen, dass die Kinder im September nicht in die Schule kommen könnten. " Die Schuleinschreibungen sind in Ingolstadt schon vor den Schulschließungen über die Bühne gegangen.

Von Seiten des Kultusministeriums gibt es bisher keine Anhaltspunkte, dass eine Einschulung nicht stattfinden würde. Birgit Baumgartner sagt: "Wir wissen ja noch nicht mal, was nächste Woche ist, geschweige denn im September. " Dass der Schulanfang in dieser Zeit eine Herausforderung werden wird, ist aber klar. "Und was mir jetzt schon in der Seele leid tut", sagt die Schulleiterin, "ist, dass wir keinen so schönen ersten Schultag mit Gottesdienst und Willkommensfeier gestalten können. Das wird fehlen".

DK

 

Laura Csapó