"Ein überstürzter Abzug wäre ein falsches Signal"

Der ehemalige Bundeswehr-General Kersten Lahl zur Bedrohungslage in der Golfregion und zum Zustand der Bundeswehr

08.01.2020 | Stand 02.12.2020, 12:14 Uhr

München - Kersten Lahl hat eine lange Karriere zwischen Militär und Politik hinter sich.

Bis zu seiner Pensionierung führte der Generalleutnant das Streitkräfteunterstützungskommando der Bundeswehr. Anschließend war er bis 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Wir fragten Kersten Lahl nach seiner Einschätzung der aktuellen Gefahrenlage für die deutschen Soldaten in der Golfregion und nach dem Zustand der Bundeswehr.

Herr Lahl, ist es richtig, wenn angesichts der Unruhen im Irak Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer jetzt die Bundeswehr abziehen will?
Kersten Lahl: Die Mission der Bundeswehr im Irak war vielleicht nie so wichtig wie gerade jetzt. Denn einer der Profiteure der chaotischen Entwicklung im Irak wird wohl der IS sein, der sich im Schatten der Ereignisse konsolidieren kann. Von daher wäre ein überstürzter Abzug der deutschen Soldaten von der Sache her sinnwidrig und ein falsches Signal, trotz zweifellos erhöhter Risiken vor Ort. Ein Verbleib gegen den Willen der irakischen Regierung ist freilich ausgeschlossen.

Was bedeutet die aktuelle Entwicklung für die Sicherheit der Bundeswehrsoldaten in der Region - beispielsweise im Fall einer Bedrohung deutscher Schiffe durch die iranische Marine in der Straße von Hormus?
Lahl: Was die militärische Bedrohung Deutschlands in der Region betrifft, so ist sie dort nicht anders als für alle Beteiligten, nämlich beträchtlich. Niemand kann die weitere Dynamik des Konflikts seriös vorhersagen. Rational betrachtet lässt sich darauf verweisen, dass die iranische Führung zwar skrupellos, aber nicht dumm ist. Sie wird Vergeltungsaktionen primär gegen amerikanische Ziele zu begrenzen versuchen.

Ist die Bundeswehr vor diesem Hintergrund angemessen ausgerüstet? Auf einer Skala von 1 (total schlecht) bis 10 (super) - wie würden Sie den Ausrüstungsstand einordnen?
Lahl: Insgesamt irgendwo zwischen 3 und 5. Jedenfalls ist der Stand in keiner Weise zufriedenstellend für eine Nation wie Deutschland. Zwar bedeuten diese Mängel nicht, dass die aktuellen Aufgaben in Afghanistan oder in Mali nicht erfüllt werden können. Aber die Bundeswehr bewegt sich seit Jahren ständig am Anschlag ihrer Leistungsfähigkeit. Es fehlen die Reserven, die eine Sicherheitsvorsorge braucht, falls es mal noch ernster wird.

Wie konnte es soweit kommen?
Lahl: Die Ursachen gehen weit zurück, bis in die 1990er-Jahre. Damals dachten alle, mit dem Ende des Kalten Kriegs könne man die sogenannte Friedensdividende einfahren, also langfristig die Ausgaben für das Militär reduzieren. Doch dann kamen unerwartet neue Herausforderungen - erst auf dem Balkan und in Somalia, dann in Afghanistan. Die Bundeswehr war bis dahin eine primär auf die Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtete Armee. Doch Auslandseinsätze sind fundamental anders. Daher musste alles neu gedacht werden: bei der Ausbildung, der Logistik, der Kommunikation. Und das alles ohne Anschubfinanzierung. Spätestens mit der Krim-Krise 2014 schließlich und der damit verbundenen Renaissance der Bündnisverteidigung wurde der Substanzverlust seit dem Kalten Krieg endgültig offenbar. Und dieses nun erneut erweiterte Aufgabenspektrum überfordert schlichtweg.

Und wo bestehen aktuell die größten Defizite?
Lahl: Salopp gesagt: bei allem was fliegt und schwimmt. Die persönliche Ausrüstung der Soldaten ist aber vergleichsweise in Ordnung.

Aber gab es um das neue Gewehr nicht auch Ärger?
Lahl: Das wurde etwas merkwürdig hochstilisiert. Das G36 ist deutlich besser als sein Ruf - auch wenn es in Afghanistan bei hohen Temperaturen und extremer Beanspruchung mitunter zu verminderter Treffsicherheit gekommen sein mag. Aber insgesamt sind nach meiner Kenntnis die Soldaten mit dem Gewehr zufrieden.

Kommen wir vom Zustand der Bundeswehr zu dem der Nato insgesamt. Unter den hohen Offizieren scheint die Zusammenarbeit ja - noch - ganz gut zu funktionieren, jedenfalls laufen die aktuellen großen Manöver ohne Komplikationen ab. Warum kommen die Politiker nicht mehr miteinander aus?
Lahl: Das stimmt, unter den Generälen herrscht ein breiter Konsens. Man versteht sich traditionell. Dass dies derzeit bei den Politikern nicht so ist, hat wohl auch damit zu tun, dass heute viele narzisstische Egomanen an den Schalthebeln der Macht sitzen: Trump, Erdogan und Johnson beispielsweise. Denen ist persönlicher Erfolg oft wichtiger als die gemeinsame Sache. Frau Merkel ist da außenpolitisch eine wohltuende Ausnahme: Sie genießt hohe Reputation und versucht regelmäßig den Scherbenhaufen zusammenzufegen, den die genannten Narzissten anrichten.

Mal angenommen, die USA ziehen sich, wie von US-Präsident Trump angedroht, aus Europa zurück - wären die europäischen Länder militärisch in der Lage einen Angriff Russlands abzuwehren?
Lahl: Ich sehe keinen vernünftigen Grund, warum Russland das Gebiet der Europäischen Union auf breiter Front angreifen sollte. Die Gefahr eines begrenzten militärischen Konflikts ist allerdings real, beispielsweise für die baltischen Staaten. Russland betrachtet diese Länder wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken noch immer als Teil seiner Einflusssphäre - vor allem da, wo es starke russisch-stämmige Minderheiten gibt. Das Risiko einer Eskalation, gewollt oder ungewollt, ist dort nicht zu unterschätzen.

DKDie Fragen stellte André Paul. Foto: oh