München - Aus der Not lässt sich manchmal eine Tugend machen.
Die Corona-Pandemie ist für den Musikbetrieb die bislang allergrößte Herausforderung überhaupt. Wie das Klassikleben nach der Krise aufgestellt sein wird, bleibt vorerst genauso offen wie das Ende sämtlicher Restriktionen. Von der Krise ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BR) besonders hart betroffen, denn: Nach dem Tod von Mariss Jansons agiert es ohne Chefdirigent.
Zudem wird erneut das neue Konzerthaus hinter dem Münchner Ostbahnhof infrage gestellt. Trotzdem hat das Orchester mit seinem ersten Live-Konzert mit Publikum aus der Not eine Tugend gemacht: dank eines klugen, kreativen Programms. Statt große Sinfonik auf reduzierte Besetzungen herunterzustutzen, wie es derzeit oft und gerne getan wird, wurden originär kleiner besetzte Werke aus der Früh- und Hochklassik gekoppelt. Ein solches reines Klassik-Programm gehört sonst nicht gerade zum Stamm-Repertoire der BR-Symphoniker.
Noch dazu stand mit Giovanni Antonini ein Pionier der historischen Aufführungspraxis am Pult. Schon in "Don Juan ou le Festin de Pierre" (Don Juan oder das Fest der Steine) von Christoph Willibald Gluck entwickelten die BR-Symphoniker einen ungeheuren Drive. Das 1761 am Wiener Burgtheater uraufgeführte Werk gilt als das erste pantomimische Ballett. Mit ihrer leichtfüßigen Agilität wirkten die BR-Symphoniker wie ein waches Kammerorchester. Wie kenntnisreich und stilgerecht musiziert wurde, offenbarte nicht zuletzt der Gebrauch des Vibratos bei den Streichern. Hier regierte weder der dauerhafte Wackelfinger noch ein Non-Vibrato-Dogma. Vielmehr wurde dieses Mittel dosiert eingesetzt: zielgenau ausgerichtet auf den jeweiligen Charakter.
Dieses Profil wurde von Jean-Guihen Queyras im Cellokonzert Nr. 1 von Joseph Haydn weiter geschärft. Dabei bildeten der Meistercellist aus Frankreich und das Orchester stets eine homogene Einheit. Ein Musizieren aus dem Geist der Kammermusik: absolut gleichberechtigt, auf Augenhöhe.
Wie sehr Giovanni Antonini keine Klischees bedient, sondern die Phrasierung und Artikulation dem semantischen Kontext anpasst, zeigte sich vollends in der Sinfonie c-Moll VB 142 von Joseph Martin Kraus. Mit diesem Werk gab es eine hörenswerte Rarität. Jedenfalls gehört der "Odenwälder Mozart" nicht gerade zu den Dauerbrennern im Konzertleben, obwohl er von Haydn und Gluck sehr geschätzt wurde. Dabei ist die c-Moll-Sinfonie von 1783 ähnlich verdüstert wie das spätere Schwesterwerk: die "Symphonie funèbre" von 1792.
Die langsame Einleitung ist faktisch eine Art Trauerfuge. Auch sonst agiert Kraus mit kühnen Harmoniewechseln und Stimmführungen, was Giovanni Antonini und die Musiker intensiv ausgekostet haben. Trotz der Maskenpflicht, den großen Abständen und der verordneten Leere im Herkulessaal herrschte eine unglaubliche Spannung. Mit diesem Konzert ist den BR-Symphonikern ein kleines Wunder geglückt: wahrlich ein Trost in schwierigen Zeiten. Diese musikalische Sternstunde gibt es als Video zum Nacherleben auf der Internet-Seite der BR-Symphoniker unter www. br-so. de.
DK
Marco Frei
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