Ein täglicher Kampf

22.03.2007 | Stand 03.12.2020, 6:55 Uhr

Ingolstadt (DK) Im Januar 2002 saß Martina Funk im Wartehäuschen einer Bushaltestelle. Ihr wurde unvermittelt schlecht, sie kippte um – von da an war Dunkelheit.

Gehirnerschütterung, in der Folge immer wieder auftauchende neuralgische Störungen, teilweise Invalidität. Knall auf Fall wurde das Leben der damals 27-Jährigen über den Haufen geworden , vorbei der Wunschtraum vom Abitur und dem Journalistikstudium. Doch morgen Abend wird sie im Rahmen der Literaturtage gemeinsam mit weiteren Ingolstädter Autoren eine Kurzgeschichte vortragen – zum ersten Mal seit vier Jahren.

Hält man sich ihr Leben vor Augen, dann klingt der Text (bewusst ohne Punkt und Komma), den sie 2003 bei den Literaturtagen unter dem Pseudonym Hitchhiker vorlas, fast wie ein Spiegelbild dieses tragischen Lebensabschnitts: "Wie der Zug bewegt sich der Wecker auch nur nach vorne / Jedoch können mögliche Unebenheiten der Gleise Störungen des Weckers verursachen / Deswegen ist es nicht sicher ob der Wecker zuverlässig arbeitet / Wie der Wecker allerdings Kontakt mit Ihnen aufnehmen wird ist ungewiss . . . ". Ihre selbst verfasste Kurzgeschichte, die sie morgen Abend liest, soll Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft personifizieren.

Warum sie schreibt? In der Reihe "Ingolstädter Schriftstücke, Band 9" versucht sie die Antwort zu geben: "Freiheit, die Grenzen der Realität zu durchbrechen und der Fantasie ihren Freiraum zu gewähren." Nur sehr zaghaft kommt sie auf ihre Krankheit zu sprechen, ganz sachte: "Mir ist der Winter eigentlich lieber, ich vertrag die Sonne nicht so." Im Sommer komme sie ohne Kopftuch nicht aus. Dann bleibe sie meistens zu Hause in ihrer klitzekleinen Wohnung, mit den Plakaten von den "Doors" an der Wand. Der einzige Schmuck. Wenn sie von ihren Eltern spricht, klingt ihre Stimme unglücklich. Sie glauben ihr nicht. "Es gibt so viele Menschen, die helfen mir, die von ZAMOR (Vereinigung für Hirnverletzte), meine Krankengymnastin Doris und viele andere – doch meine Eltern denken, ich simuliere."

"Ich freu mich schon auf Samstag, es wird mit Sicherheit schön." Mühsam kommen die Sätze, doch immer wohlgesetzt. Donnerstag vor einer Woche war im Anker eine Zusammenkunft der Ingolstädter Autoren, "und da hat es auch super geklappt". Bei den Treffen bleibt sie meist nicht lange. Irgendwann meldet sich die Krankheit. "Dann komme ich nicht mehr mit, begreife nicht oder erst viel später, was gesagt wird." Die Realität blendet sich aus. Sie flüchtet, steht plötzlich auf, verlässt den vertrauten Kreis. "Aber das sind meine Freunde jetzt schon gewohnt."

Vor kurzem bei einer Geburtstagsfeier musste sie aufs Klo. "Der Weg dorthin musste mir fünf Mal erklärt werden – oberpeinlich." Für sie war es das Signal, aufbrechen zu müssen, weg von den Freunden, herausgerissen aus der Runde. "Die ganze Kraft geht dann raus, kaum mehr Kraft, mich umzuziehen . . ." Jetzt, beim Erzählen, lacht sie darüber.

Hotelfachfrau und Kinderpflegerin hatte sie gelernt, bevor sie sich entschloss, das Abi nachzumachen. Sie arbeitete nebenher bei Audi und büffelte in der Abendschule. "Dort war ich supergut – doch der Unfall hat mich rausgehauen." Danach versuchte sie, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, doch die ständigen Kopfschmerzen und Konzentrationsmängel setzten dem schnell ein Ende. Ein bis zwei Stunden – mehr ging nicht.

Zwei Jahre nach ihrem Unfall kamen die "Störungen", wie sie sie nennt. Sie nimmt Medikamente, Antiepileptika , eine Zeit lang auch Schlaftabletten. Epileptische Anfälle können das Gehirn irreparabel schädigen. "Aber ich hab’s im Griff," beteuert sie. Ebenfalls die Gleichgewichtsstörungen. Ihre Krankengymnastin, die immer wieder ihre Verkrampfungen lösen muss, ist zu ihrer Vertrauten geworden, eine der wenigen – "wir sind ein eingespieltes Team", sagt Martina Funk lachend. Es klingt bitter. Ihre Augen, die lange Zeit nicht mehr zusammenspielten, haben sich gebessert. Mit dem rechten Auge hatte sie geschielt. Selbst heute noch ist alles oft verschwommen und sie kann nicht mehr lesen, geschweige denn schreiben.

90 Minuten hielt Martina Funk beim Interview am Mittwochabend durch. Wie wird es am Samstag sein? Zwischen ihren Worten blinkt kurz so etwas wie Panik auf, doch sie überspielt es. Angst zeigt sie keine. "Ich zieh mich a bisserl schön an, und dann klappt’s schon" sagt sie und muss selber lachen. "Gleich im ersten Block bin ich dran, als Zweite . . . ich halt’s auch nicht so lang aus." Beim letzten Mal, 2003, musste sie unvermittelt aufstehen, verlief sich im Treppenhaus der VHS und stand vor dem verschlossenen Ausgang. Wenn sie in Stress gerät, kommt das Zittern.

Wenn der Eissalon bei ihr um die Ecke am Samstagabend nach der Lesung noch offen hat, wird sie dort vielleicht vorbeigehen und sich "Straciatella mit viel Sahne" kaufen – das hatte sie sich auch vor dem Gespräch am Mittwoch gewünscht. Der Eisverkäufer wusste sofort Bescheid.