Prag
Ein Staat mit Geburtsfehlern

Am 28. Oktober 1918 wurde die Tschechoslowakei gegründet - Sie war auch die Heimat von 3,2 Millionen deutschsprachigen Bürgern

26.10.2018 | Stand 23.09.2023, 4:48 Uhr
Wahrzeichen der Tschechoslowakei: die Prager Burg. −Foto: Maria Fahn

Prag (DK/dpa) Tschechien und die Slowakei blicken an diesem Wochenende auf die Gründung der Tschechoslowakei vor 100 Jahren zurück: Am 28. Oktober 1918 erklärte die Tschechoslowakei ihre Unabhängigkeit von Österreich-Ungarn.

Für viele deutsch- oder ungarischsprachige Bürger des neuen Staates war das damals allerdings kein Grund zum Feiern: Sie fühlten sich als Minderheiten. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mussten viele von ihnen das Land verlassen.

Die Gründung des neuen Staates ist nicht zuletzt das Verdienst des Philosophen und ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomas Garrigue Masaryk (1850-1937). Mit dem Pittsburgher Abkommen vom Mai 1918 gewinnt er die tschechischen und slowakischen Emigranten in den USA für die Idee eines gemeinsamen Staates. Die Stahlhochburg Pittsburgh ist zu dieser Zeit ein Zentrum der Emigration.

Allerdings verläuft die Entwicklung hin zu dem neuen Staat nicht geradlinig: Während des Ersten Weltkrieges kristallisierten sich verschiedene Exilgruppen heraus. Jede von ihnen hatte eigene Ziele: So will die Gruppe in Moskau und St. Petersburg ein tschechisches Fürstentum, das vom russischen Zaren oder einem seiner Verwandten regiert werden sollte. Eine slowakische Gruppe dagegen favorisiert ein eigenes Königreich, die Krone sollte ein Franzose tragen.

Die Idee zu einer Republik verfolgt vor allem Masaryk. Er pendelt zwischen London, Paris und den USA um für sein Projekt zu werben. Wenig später überzeugt Masaryk auch US-Präsident Woodrow Wilson von seiner Idee der Nachkriegsordnung. Er präsentiert den Staat als moderne Demokratie der Tschechen und Slowaken, die Minderheitenrechte achtet. "Masaryk hatte ein einziges Ziel, die tschechische Eigenstaatlichkeit, doch es war ihm bewusst, dass ein unabhängiges Böhmen bei den Großmächten keinen Erfolg haben würde", erklärt der Historiker Michal Stehlik. "Die Slowaken wiederum wollten ihre nationale Zukunft nicht mit Ungarn verbinden. " Erst die Zusammenarbeit beider Völker habe zum Erfolg geführt.

Die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit sei nämlich eigentlich eine Art Österreich-Ungarn im Kleinen gewesen, sagt Stehlik. Neben Tschechen und Slowaken leben dort auch Deutsche, Ungarn, Ruthenen, Polen und Juden.

Die britische Wissenschaftlerin Mary Heimann, die an der Universität Cardiff Geschichte lehrt, sieht die Verbindung der Tschechen und der Slowaken zum "tschechoslowakischen Staatsvolk" durchaus kritisch: Zusammen stellen Tschechen (6,8 Millionen und Slowaken (2 Millionen) mit 8,8 Millionen Bürgern die Mehrheit in dem neuen Staat. Doch eigentlich handele es sich um zwei verschiedene Völker. Allerdings habe die Zusammenlegung zahlenmäßig ein deutliches Übergewicht ergeben - und die Möglichkeit , die übrigen Bevölkerungsgruppen zu Minderheiten zu erklären. Darunter 3,2 Millionen Deutschsprachige und 800000 Ungarischsprachige.

Ihnen wurden zwar weitgehende Minderheitenrechte zugestanden, doch für einen echten Ausgleich unter den Bevölkerungsgruppen reicht das nicht. Sie hätten sich als Bürger zweiter Klasse gefühlt, schreibt Heimann in "Czechoslovakia - The State That Failed", einem der Schlüsselwerke über die Geschichte der Tschechoslowakei. Auch Masaryk erkennt dieses Problem: "Man muss mit unseren Deutschen verhandeln, damit sie unseren Staat annehmen, der kein nationalistisches Gebilde, sondern eine moderne, fortschrittliche Demokratie sein wird", äußert sich Masaryk einmal hoffnungsvoll in einem Briefwechsel.

Allerdings hat Masaryk nicht die Kraft, sich durchzusetzen: Zu seinen Weggefährten gehört Edvard Benes. Er ist bis 1935 Außenminister in der jungen Tschechoslowakei, dann bis 1938 Präsident. Benes hat bereits vor der Staatsgründung Pläne ausarbeiten lassen, deren Ziel es ist, die übrigen Bevölkerungsgruppen zu verdrängen. Er wird dieses Ziel in den 20er- und 30er-Jahren zwar nicht offen verfolgen, aber doch nicht aus den Augen verlieren.

Die Einbindung der Minderheiten misslingt denn auch: Die Mehrzahl der Sudetendeutschen sucht später den Anschluss an Hitler-Deutschland, was zuerst zur erzwungenen Abtretung der deutschsprachigen Gebiete im Herbst 1938 und letztlich zur Zerschlagung der gesamten Tschechoslowakei im März 1939 führt. Die Wiederherstellung des Staates erfolgt nach dem Zweiten Weltkrieg - freilich ohne die Deutschen und die Ungarn, die zwischen 1945 und 1947 enteignet und aus ihrer Heimat vertrieben werden. Und ohne die rund 70000 Juden, die von den Nazis umgebracht worden sind.

Allerdings währt die neue Freiheit nur kurz: 1948 übernehmen die Kommunisten die Macht. 20 Jahre später wird der Prager Frühling niedergeschlagen. Erst mit der samtenen Revolution 1989 gelingt es Tschechen und Slowaken, das Joch abzuwerfen. Doch schon wenige Jahre später, am 1. Januar 1993 zerfällt die Tschechoslowakei.

Wirklich überraschend kommt diese Entwicklung nicht: Das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken ist seit 1918 belastet: In der Slowakei wird die Tschechoslowakei bis heute eher als ein tschechischer denn als ein wirklich gemeinsamer Staat von Tschechen und Slowaken wahrgenommen. Das zeigt sich auch darin, dass das Jubiläum dort weniger groß gefeiert wird.

Gefeiert wird an diesem Wochenende dagegen in Prag mit einem großen Programm. Es reicht von einem Konzert auf dem Altstädter Ring mit Schlagerstars wie Karel Gott bis hin zu einem Höhenfeuerwerk, das am Sonntag um 19.18 Uhr beginnt und damit an das Jahr 1918 erinnert.
 

Christian Fahn, Michael Heitmann