Ein Scherbenhaufen

Kommentar

24.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:37 Uhr

Das Ergebnis ist Brexit - ein Scherbenhaufen. Großbritannien hat einen monatelangen Wahlkampf über das EU-Referendum geführt. Der Ausgang ist deutlich und unumkehrbar - und er hinterlässt ein zerrissenes Land. Ein Land, das gespalten ist nicht nur zwischen den Altersgruppen, wo die Jungen mehrheitlich für den EU-Verbleib und die Älteren eher für den Austritt gestimmt haben. Gespalten auch zwischen den sozialen Klassen, wo die gering qualifizierten Lohngruppen im Brexit-Lager standen und die besser ausgebildeten Bürger sich für die Europäische Union ausgesprochen haben. Und es ist auch ein Land, das geografisch zerrissen ist: Drei große Regionen, London, Nordirland und Schottland, wollten vom Brexit nichts wissen. Zumindest im Fall von Schottland kann das noch ernste Konsequenzen haben, denn das Land wird jetzt ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ansteuern.

Doch am schlimmsten dürfte sich die innere politische Entfremdung unter den britischen Bürgern selbst erweisen, die mit der Debatte Einzug gehalten hat und die mit dem Ergebnis zementiert wurde. Zwar kann es an der demokratischen Legitimität des Votums keinen Zweifel geben. Die Wahlbeteiligung war mit 72 Prozent so hoch wie bei keiner landesweiten Wahl seit mehr als 30 Jahren. Und die Entscheidung ist klar, knapp 1,7 Millionen Briten mehr haben sich für den Brexit entschieden.

Doch damit ist die Sache nicht geklärt und die Frage nicht aus der Welt. Die eine Hälfte der Briten wird sich nicht so ohne Weiteres damit abfinden können, von der anderen Hälfte aus der Europäischen Union gezerrt zu werden. Wie aufgepeitscht die Emotionen sind, lässt sich ablesen an den Reaktionen der Freunde der ermordeten Pro-EU-Kämpferin Jo Cox auf eine Triumphrede des Ukip-Chefs Nigel Farage, der tönte, dass "die Unabhängigkeit erreicht wurde, ohne dass ein Schuss abgefeuert wurde". Im Fall Cox gerade nicht. Jetzt rächt sich, dass der Wahlkampf die Atmosphäre vergiftet und den Ton der Auseinandersetzung immer schriller gemacht hat. "Ein konstitutionelles Referendum hat einen ziemlichen destruktiven Einfluss auf den öffentlichen Diskurs", weiß David Torrance, der die Volksabstimmung über die schottische Unabhängigkeit vor zwei Jahren eng verfolgt hat. "Denn es bietet eine binäre Antwort auf eine hoch komplexe Frage. Alles wird dann in Schwarz und Weiß gesehen."

Und das hat Konsequenzen. Wie vor zwei Jahren in Schottland hat man jetzt in England einen massiven Verfall der politischen Streitkultur erlebt: Da wurden Experten als parteiisch abgetan, der politische Gegner als Lügner hingestellt, Fakten ignoriert, und schließlich glaubte keine Seite der anderen mehr irgendetwas. Großbritannien muss jetzt vorsichtig sein, dass man nicht auf dem Weg zur sogenannten "Post-Truth-Gesellschaft" ist, wie sie sich in den USA darbietet: total verfeindete Lager, die sich nicht mehr über das, was als wahr gelten soll, verständigen können.

Hinzu kommt: Ein nationaler Konsens ist in Großbritannien umso weniger zu schmieden, weil die politische Situation jetzt völlig verfahren ist. Innerhalb der konservativen Partei entbrennt nach dem Rücktritt von David Cameron ein Machtkampf um die Führung, was das Land über die nächsten Monate beschäftigen wird. Der Labour-Chef Jeremy Corbyn sieht sich mit einem Misstrauensvotum konfrontiert, weil er im Wahlkampf nur halbherzig für die EU eingetreten ist. Von den 650 Abgeordneten des Unterhauses hatten sich 463 Volksvertreter, das sind mehr als 70 Prozent, für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Viele von ihnen haben gelobt, alles zu tun, um das Land im Binnenmarkt zu halten. Auf Großbritannien kommt, von den wirtschaftlichen Folgen des Brexit mal ganz abgesehen, eine Ära der Uneinigkeit zu.