Hilpoltstein
"Ein Notarzt! Wir brauchen einen Notarzt!"

20.10.2019 | Stand 02.12.2020, 12:48 Uhr
Eine Übung für den Ernstfall, der hoffentlich nie eintritt: Die Einsatzkräfte bringen einen Unfallopfer-Darsteller aus dem Tunnel der ICE-Strecke bei Göggelsbuch nach oben. −Foto: Fischer

Hilpoltstein/Göggelsbuch (HK) Samstagabend in Allersberg: Während die meisten Rollläden schon heruntergelassen sind, brennt in der Mittelschule noch Licht.

Mehrere Einsatzkräfte, die Warnwesten tragen, wuseln dort durcheinander. Dazwischen drängen sich Menschen mit blutig geschminkten Gesichtern. "Das wird heute nicht einfach", sagt Werner Löchl. Der Kreisbrandrat des Landkreises Roth gehört zu den Leitern der Großübung. Zusammen mit seinen Kollegen weist er die Unfallopfer-Darsteller und einige Verantwortliche von Feuerwehr, THW und BRK in das spätere Szenario ein.

Während die rund 100 Darsteller mit Feuerwehrfahrzeugen zum Einsteigen in den ICE an den Regionalbahnhof Allersberg gebracht werden, fahren die Leiter der Großübung nach Göggelsbuch. Hier ahnt noch niemand, dass in wenigen Minuten nahezu jede Straße mit Einsatzfahrzeugen zugestellt sein wird. Vorerst ist hier nur ein kleines, weißes Zelt neben einem Feld aufgebaut. Daneben stehen einzelne Fahrzeuge des Katastrophenschutzes und der Feuerwehren. Für den Fall, dass später Fahrgäste voller Panik aus dem Tunnel fliehen und in den Wald rennen, bereitet sich eine Einsatzgruppe mit Drohne vor.

Mittlerweile sind auch Vertreter der Deutschen Bahn eingetroffen. Auch für sie ist die Großübung eine wichtige Gelegenheit, um Prozesse zu überarbeiten und zu verbessern. "Der Zug fährt jetzt mit den Passagieren ab", ruft ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn in die Runde. Dann wird es ruhig. Es ist genau 1 Uhr.

Während die Beobachter der Übung auf dem Feld warten, rast unter der Erde der ICE in den Tunnel. Bei Kilometer 30,2 legt er eine Vollbremsung ein. Der Zugführer meldet den Unfall an die Deutsche Bahn nach München, die wiederum alarmiert die Bundespolizei. Kurz darauf springen die Alarmierungsgeräte der einzelnen Kräfte von Feuerwehr und BRK an. Ein wildes Pieps-Konzert stört die Nachtruhe. Kurz darauf ein Funkspruch: "Fremdkörperberührung im ICE Tunnel - mehrere Verletzte. "

"Jetzt geht's los", sagt Löchl und läuft gemeinsam mit seinen Kollegen einen kleinen Feldweg voran. Links daneben befindet sich ein kleines, unscheinbares Gebäude: es ist der Notfallzugang zum unterirdischen ICE-Tunnel.

Erste Martinshörner sind aus der Ferne zu hören, ein Wirrwarr aus Funksprüchen setzt ein. Die Sätze "Bergrettung Weißenburg ist alarmiert" und "Wir befinden uns in Anfahrt" sind zu verstehen. Kurz darauf treffen zwei Fahrzeuge der Polizei und der Feuerwehr auf dem schmalen Feldweg ein. Das Summen einer aufsteigenden Drohne über dem Feld ist zu hören. Während ein Feuerwehrmann die Tür zum Notausgang aufsperrt und über ein Notfallsystem den Kontakt zum Zug aufnimmt, rollen weitere Fahrzeuge der Feuerwehr mit Blaulicht an. Einige Einsatzkräfte in voller Atemschutzmontur und bepackt mit Schläuchen und Werkzeugen springen heraus und laufen in das kleine Häuschen hinein.

Über eine Wendeltreppe geht es 30 Meter unter die Erde. Von dort führt eine Tunnelanlage direkt in den etwa 3000 Meter langen Bahn-Tunnel. "Tür offen, kein Rauch", ruft ein Feuerwehrmann, als er die massive Eisentür mit vollem Körpereinsatz zu sich zieht. Es riecht nach modrigem Keller und Benzin. Ein ICE steht verlassen im dunklen Tunnel. Die kleine Einsatztruppe nähert sich dem Zug. Von innen klopfen Darsteller schon an die Scheiben und schreien um Hilfe. Eine Schaffnerin öffnet eine Tür. Ohrenbetäubendes Piepsen dringt nach außen. Die Frau schiebt den Einsatzkräften eine Notfallleiter nach draußen zu.

Oben wird derweil die Alarmierungsstufe erhöht. "Jetzt wird kräftig nachalarmiert", sagt Löchl, der gebannt die Funksprüche verfolgt. Nicht nur alle Rettungsorganisationen des Landkreises werden nun gerufen. Auch beim Südklinikum in Nürnberg geht ein Alarm ein. Stichwort: mehrere Schwerverletzte. Die Sanitäter erfahren erst vor Ort, dass es sich um eine Übung handelt.

Während das THW über dem Tunnel große Flutlichter aufbaut und immer mehr Einsatzfahrzeuge eintreffen, hat sich die Feuerwehr unten nun Zutritt zum Zug verschafft. Auch die ersten Kräfte vom Roten Kreuz sind im ICE. Überall liegen Fahrgäste und schreien. Die einen mit blutigen Platzwunden, andere mit Fleischwunden an Armen und Beinen. "Wo ist meine Maria? ", ruft eine aufgebrachte Großmutter immer wieder. Aus einem anderen Abteil sind Wortfetzen zu hören: "Mein Arm, mein Arm. " Jeder Fahrgast wird vom BRK innerhalb weniger Sekunden anhand der Verletzungen und Symptome in eine Kategorie eingeteilt und bekommt einen Papierbogen um den Hals gehängt. Gehfähige und weniger schlimm Verletze werden der Kategorie "grün" zugeteilt, lebensbedrohliche Akutfälle erhalten die Farbe "rot".

Nicht nur das laute Piepsen und der beengte Platz in den Zugabteilen machen den Einsatzkräften zu schaffen. Auch die rund 100 Darsteller, die vorher vom Kriseninterventionsteam genau geschult worden sind. Denn der Einsatz soll so realistisch wie möglich ablaufen. Ein zitternder Mann weigert sich, den Zug ohne seinen bewusstlos am Boden liegenden Sohn zu verlassen, eine schwangere Frau schreit aus Angst um ihr Kind, ein älterer Herr läuft verwirrt und aufgebacht durch den Zug und brüllt nach seiner Mutter.

Nach und nach treffen immer mehr Rettungskräfte im Tunnel ein. Etwa 300 Männer und Frauen sind in die Katastrophenschutzübung eingebunden. Mit Liegen werden die ersten Passagiere aus dem Zug transportiert. Als drei Kräfte beruhigend auf eine junge Frau mit einer Platzwunde an der Schläfe einreden, beginnt eine andere Frau zu röcheln. Dann kippt sie auf die Seite. "Ein Notarzt! Wir brauchen einen Notarzt", ruft ein Feuerwehrmann.

Noch in der Tunnelanlage kümmern sich die Rettungskräfte um die Unfallopfer. Einzelne Beobachter in orangefarbenen Warnwesten protokollieren dabei jeden Schritt. Im Nachgang wird der Ablauf besprochen, um für die Zukunft Verbesserungen vornehmen zu können. Über dem Tunnel haben sich mittlerweile dutzende Einsatzwagen von Feuerwehr, Polizei, THW, Katastrophenschutz und BRK positioniert. Vor dem Göggelsbucher Sportheim ist inzwischen eine Versorgungsstation mit Getränken und Eintopf aufgebaut worden. Für Darsteller und Einsatzkräfte eine gute Möglichkeit, Energie zu tanken. Die Katastrophenschutzübung dauerte schließlich bis in die frühen Morgenstunden.