Ingolstadt
Ein Netz aus Lügen

Großer Applaus für Christoph Nußbaumeders Familiensaga "Eisenstein" am Stadttheater Ingolstadt

22.01.2012 | Stand 03.12.2020, 1:55 Uhr

Glücklose Liebe: Gerlinde (Julia Maronde) und Georg (Richard Putzinger) haben als Teenager gemeinsame Zukunftspläne. Doch dann kommt alles ganz anders und immer noch viel schlimmer. - Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Am Anfang steht eine Lüge. Sie wächst, verzweigt sich, gebiert neue Lügen, entwickelt zerstörerische Kräfte, wuchert in die nächste Generation, wirkt fort in der übernächsten. Wie ein Fluch lastet sie auf der Familie. Fordert Opfer. Mehr und mehr. Denn für die Wahrheit ist es längst zu spät. „Eisenstein“ hat Christoph Nußbaumeder sein Stück genannt, das ein Kritiker nach der Uraufführung in Bochum 2010 sehr treffend als „Familiensaga zwischen Atriden und Dallas“ bezeichnet

hat. Deutsche Nachkriegsgeschichte zwischen griechischer Tragödie und TV-Soap, angesiedelt in einem niederbayerischen Dorf unmittelbar an der Grenze zu Tschechien. In Nußbaumeders komplex konstruiertem Plot geht es um Liebe und Leid, um kleine Betrügereien und große Politik, um Macht und Mitläufer, um Krieg und Geschäft, um Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung, um Verrat und Schuld und um die Frage, wie wir wurden, was wir sind. Donald Berkenhoff hat „Eisenstein“ im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt in Szene gesetzt: in eindrucksvoller Klarheit, in luziden Bildern, mit großer erzählerischer Präzision und feinem Gespür für all das, was zwischen den Zeilen steht.

Am Anfang ist dieses Kind. Gezeugt in den Wirren des Krieges auf der Flucht. Erna schiebt es dem Gutsbesitzer Josef Hufnagel unter, bei dem sie als Magd arbeitet – wie einst ihre Mutter bei seinem Vater. Josef will für Erna und den Buben sorgen, wenn sie die Vaterschaft geheim hält. Georg wächst in Eisenstein auf, wird hier gefördert, bekommt mit Josefs Bruder Vinzenz einen Stiefvater. Doch dann verliebt er sich in Josefs Tochter Gerlinde. Der vermeintliche Vater fürchtet Blutschande und setzt alles daran, die Beziehung zu verhindern, drängt die schwangere Gerlinde zu einer Abtreibung. Gerlinde bricht mit Georg, lässt ihn aber über die wahren Gründe im Ungewissen. Georg flüchtet sich trotzig in eine Ehe mit Heidi, Gerlindes jüngerer Schwester. Doch die Ehe scheitert. Viel später scheint es für Georg und Gerlinde doch noch eine Chance zu geben, doch längst lauert neues Unheil: ein verschwiegenes Kind, ein totes Kind, noch mehr Geheimnisse, noch mehr Schuld, noch mehr Lügen.

Christoph Nußbaumeder versucht, im Kleinen das Große zu erzählen, vernetzt die symbolisch aufgeladene Familiensaga mit der Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 und spiegelt die gesellschaftlichen Debatten aus mehr als 60 Jahren in den Figuren wider – in ihren Konflikten, in ihren Gesprächen, in ihren Fragen und in ihrem Schweigen. Das mag bisweilen sehr konstruiert wirken, fast kolportagehaft, verdeutlicht aber doch, wie stark die (politische, wirtschaftliche) Vergangenheit die Gegenwart des Einzelnen beeinflusst. Nußbaumeder spinnt ein vielschichtiges Netz aus Beziehungen, in dem sich seine Figuren verstricken und aus dem sie sich ohne Hilfe kaum befreien können.

Die Kunst von Regisseur Donald Berkenhoff ist es, diese Beziehungslinien für das Publikum aufzudecken, ohne den Erzählfluss der Geschichte zu stören oder ihr gar die Spannung zu nehmen. Denn trotz allem verfolgt man „Eisenstein“ ja fast wie einen Krimi. Berkenhoffs Regiesprache ist von großer Ruhe und Behutsamkeit bestimmt, er kann wunderbar poetische Bilder evozieren (sogar die Übergänge sind bis ins Detail sorgfältig und mit viel Fantasie inszeniert), mit klugem Wechsel von kleinen und großen Räumen (Bühne: Haitger M. Böken) und minimalem Einsatz von Geräusch und Klang eindringlich Atmosphäre schaffen – und vor allem kann er Schauspieler führen.

Wieder einmal sieht man hier ein Ensemble in höchster Konzentration agieren. Im Zentrum Julia Maronde und Richard Putzinger als Gerlinde und Georg, die sich von der ersten glücklichen Verliebtheit bis zum letzten tragischen Kampf durch alle Stadien einer höchst komplizierten Beziehung spielen, sich entblößen, sich wundreiben, aneinander kaputtgehen. Intensiv, anrührend, verstörend. Ihnen gilt nach knapp drei Stunden zu Recht der größte Applaus. Manuela Brugger, die als Erna die Lüge in die Welt setzt und sich auf der Bühne vom jungen Mädchen zur verbitterten alten Frau wandeln muss, wird ebenfalls mit viel Beifall bedacht. Wie auch Ralf Lichtenberg, Victoria Voss, Olaf Danner, Jan Gebauer, Karlheinz Habelt, Ursula Reiter, Anjo Czernich, Verena Zieglmeier und Ulrich Kielhorn, die ihre Rollen allesamt mit großer Akribie und Glaubwürdigkeit meistern.

Kompliment an Andrea Fisser, die mit ihren Kostümen die Zeitreise so schlicht wie charmant bebildert. Eine Reise, die uns mit unserer eigenen Vergangenheit konfrontiert, mit Fragen nach dem Woher und dem Warum. Ein bisschen „Eisenstein“ findet sich schließlich überall.