Ingolstadt
Ein Mann will nach oben

17.12.2010 | Stand 03.12.2020, 3:20 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Wer in diesen Tagen mit Markus Reichhart (44) zu tun hat, der begegnet öfter mal Herrn Kalkowski. Entweder in schriftlicher Form oder auch persönlich. Herr Kalkowski, der Politologe Christoph Kalkowski, firmiert als "Persönlicher Referent von Markus Reichhart MdL", dem Landtagsabgeordneten der Ingolstädter Freien Wähler.

So schnell kann das manchmal gehen von der kleinen in die große Politik: vom Inhaber eines Optikergeschäftes in der Münchener Straße über den FW-Jungstadtrat bis zum Chef eines persönlichen Referenten mit Hochschulabschluss.
 
Aber es soll noch weiter gehen, weiter nach oben. "Wenn es gewünscht wird, mach ich es auch", zögert Markus Reichhart keine Sekunde bei der Frage, ob er bereit wäre, 2014 als OB-Kandidat der Freien Wähler anzutreten. Nicht ganz so eindeutig fällt die Antwort beim Weg zur Spitzenkandidatur aus. Der würde normalerweise über den Fraktionsvorsitz führen. "Der Peter macht sehr gute Arbeit, der macht das ausgezeichnet", bescheinigt der aufstrebende Landtagsabgeordnete seinem derzeitigen Fraktionschef Gietl. Aber es folgt auch der bezeichnende Nachsatz, dass der Rechtsanwalt Gietl in seiner Kanzlei "beruflich sehr stark eingespannt" sei. "Ich muss jetzt nicht unbedingt den Fraktionsvorsitz übernehmen."

Jetzt noch nicht, aber wann? Bei der jüngsten Klausur wurde die Führungsfrage trotz vielerlei Spekulationen derart konsequent ausgeklammert, dass es fast schon wieder auffällig war. Die Stadtratsriege der Freien Wähler ist mit zehn Mitgliedern zahlenmäßig so stark wie nie zuvor – ein einzigartiger Kosmos von Leuten, die nur eins gemeinsam haben: dass sie kaum etwas gemeinsam haben. "Zehn FWler – zwölf Meinungen", sticheln sie oft beim großen Koalitionspartner in der CSU-Fraktion.

Da ist zum Beispiel der Arzt Dr. Gerd Werding, ein spätes Kind der Studentenbewegung, eher links und sozial engagiert. Für ihn ist jede Art von Fraktionsdisziplin Teufelswerk. Da ist der verbindliche Sepp Mißlbeck, der sich mit seinem Bürgermeisterposten einen Lebenstraum erfüllt hat und außer Repräsentationspflichten wohl keine größeren Herausforderungen mehr sucht.

Da sind Vater und Sohn Stachel, der eine seit vielen Jahren in handfester Kommunalpolitik und weit verzweigtem Vereinsleben unterwegs, der andere gerade erst in den Stadtrat nachgerückt – ebenso wie der Sattlermeister Klaus Böttcher. Nicht zu vergessen natürlich die beiden gereiften Renegaten, die kurz nach der Kommunalwahl 2008 von der zerstrittenen SPD zu den Freien Wählern geflüchtet sind: Franz Götz und Andreas Schleef.

An der Spitze dieser bunten Truppe der Jurist Gietl. "Der ist für die FW Gold wert", sagt einer aus der Fraktion über seinen Vorsitzenden, "der verbindet Moderation mit Führung." Nur durch die ausgleichende Art ihres Frontmannes haben die Freien Wähler wohl die zweieinhalb Jahre Koalition mit der CSU bisher ohne Existenzkrise überstanden. Gietl kokettiert zwar immer wieder einmal mit seiner beruflichen Überlastung. Aber den wöchentlichen "G-2-Gipfel" mit CSU-Fraktionsführer Joachim Genosko weiß er durchaus zu genießen. Man versteht sich persönlich ausgesprochen gut, man gibt auch gemeinsame Pressekonferenzen wie in dieser Woche. "So lang wir den Gietl haben", wettet ein gut informierter Stadtrat aus der CSU, "so lange hält die Koalition. Ob der Reichhart mehrheitsfähig ist, da bin ich mir nicht so sicher. Der ist und bleibt ein Wadlbeißer."

Dem christsozialen Lästermaul fällt beim Gedanken an den FW-Abgeordneten noch ein anderes Prädikat ein. "Wir sagen immer: des Bürscherl, der is a richtigs Bürscherl." Da schwingt auch etwas die Herablassung mit, die man als Christsozialer nach Jahrzehnten absoluter Mehrheit intus hat: Kommt doch einfach so ein Frechdachs von den Freien Wählern daher und untersteht sich, die Vertreter der bayerische Staatspartei zu ärgern.

Markus Reichhart ist gebürtiger Ingolstädter. Seine Eltern waren 1963 nach Ingolstadt gezogen, weil der Vater einen Job bei Audi bekam. Die Familie lebte im Westviertel. "Ich bin gegenüber dem Haupteingang vom Westfriedhof aufgewachsen", erzählt der langjährige Ministrant der Münsterpfarrei. Einer seiner Klassenkameraden war Hans Stachel, Stadtratsneuling und Reichhart-Gefolgsmann in der Fraktion.

Nach der Mittleren Reife an der Ickstatt-Realschule, der Lehre als Augenoptiker, Bundeswehrzeit und Meisterprüfung machte Reichhart sich 1992 mit einem Geschäft in der Münchener Straße selbstständig. Das war auch das Jahr, in dem er politisch aktiv wurde. "Die Sache mit der dritten Donaubrücke" sei es gewesen, die ihn dazu gebracht habe. Plötzlich steckten Pflöcke im Glacis neben der Westlichen Ringstraße, und keiner von der Stadt wollte etwas davon gewusst haben. "Das hat mich so geärgert", erinnert er sich. "Ich habe dann Handzettel im Westviertel verteilt."

Seit 2002 sitzt Reichhart für die FW im Stadtrat. Er ist der Finanzsprecher seiner Fraktion. Der verheiratete Vater von drei Kindern wohnt inzwischen im Südwestviertel, traditionell die Hochburg der Freien Wähler. Wenn er nicht gerade im Rathaus oder im Landtag seine Stimme abgibt, setzt er sie als Tenor in diversen Gesangsensembles ein. "Ich hab auch schon in zwei Bands Trompete gespielt und gesungen."

Dass der musikalische Mittvierziger künftig auch bei den Freien Wählern den Ton angeben will, gilt als sicher. Nicht aber, dass er die Mehrheit der Fraktion schon auf seiner Seite hat. "Der Gietl ist sehr ausgleichend", weiß ein Kenner der Szene, "der Reichhart polarisiert." Und manche sagen hinter vorgehaltener Hand, dass dem Abgeordneten der Schritt zum Berufspolitiker wohl doch etwas zu Kopf gestiegen sei. Selbst die Frisur habe sich angepasst: vom Lockenkopf zum eher stromlinienförmig gestylten Haarschnitt. Mit schicker Brille dazu, doch das ist vielleicht bei einem Augenoptiker nicht ganz so überraschend. "Er findet sich selbst ganz toll", spottet ein Fraktionsmitglied.

In den vergangenen Wochen startete Reichhart eine regelrechte Informations- und Werbeoffensive. Er eilt von Termin zu Termin, setzt sich für kirchliche Berufsfachschulen ein, liest vor Kindern in der Antonschule, sammelt in der Fußgängerzone für den guten Zweck und nimmt an einer Führung im Theater teil. Seine Präsenz im Internet noch gar nicht mitgerechnet, wo man zum Beispiel erfährt, dass der FW-Parlamentarier sich im Juni bei der Bundesversammlung zwar für Joachim Gauck als Bundespräsident entschieden habe, jedoch unabhängig davon Christian Wulff für eine "gute Wahl" halte.

Im Sitzungssaal des Ingolstädter Stadtrates hat Reichhart seit der Wahl Wolfgang Scheuers zum Umweltrefenten eine neue Nachbarin. Die Frau, die jetzt ins Spiel kommt, ist Unternehmerin und 54 Jahre alt. "Mein Name ist Veronika Peters, und ich bin geborene Ingolstädterin", stellte sie sich 2007 vor der Wahl im FW-Blatt vor. "Schlittschuhlaufen habe ich auf dem Künettegraben gelernt, im Hetschenweiher habe ich Kaulquappen gefangen und mitten auf der Ettinger Straße bin ich von der Schule nach Hause gegangen."

Veronika Peters leitet gemeinsam mit ihrem Mann ein erfolgreiches Unternehmen mit 430 Mitarbeitern, ist aber auch im Ehrenamt außerordentlich aktiv. Ihr Name hat in der Ingolstädter Gesellschaft einen guten Klang. Wer ihr im Gespräch gegenüber sitzt, hat keine Zweifel: Diese Frau bezieht ihr Selbstbewusstsein nicht (nur) aus der Politik. Ja sie betont im Gegenteil: "Ich kann jederzeit aufhören." Eine unabhängige Position, die es ihr erleichtert, fraktionsintern offener zu reden, als es manchem lieb ist. Mit der "Südschiene" von Reichhart/Stachel kann sie nicht viel anfangen.

In der CSU wird Peters sehr ernst genommen. "Die würde uns als OB-Kandidatin mehr weh tun als der Reichhart", glaubt ein erfahrener Stadtrat und fügt mit Blick auf Amtsinhaber Lehmann hinzu: "Die würde dem Alfred am meisten Stimmen wegnehmen." Doch bis zur OB-Wahl im Frühjahr 2014 haben die Freien Wähler noch viel Zeit zum Diskutieren. Außerdem wartet auf Markus Reichhart ja im Herbst 2013 noch ein wichtiger Termin: die Landtagswahl mit allem Risiko. "Das wäre sein wunder Punkt", prophezeit der CSU-Stadtrat, "wenn er als Verlierer bei der OB-Wahl antreten muss."