Ein lebenslanger Fluch

27.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:29 Uhr
Das Marterl, das an den mysteriösen Sechsfachmord von Hinterkaifeck erinnert. −Foto: DK

Hinterkaifeck (DK) Warum nur? Zeit seines Lebens hat Alois Schlittenbauer über diese Frage nachgedacht, verdammt lange schon. 83 Jahre ist er geworden, gesundheitlich passt es einigermaßen, auch wenn das Alter seinen Tribut fordert, wie das halt so ist.

Aber im Kopf, da ist er völlig klar, und da drinnen geht es um. Der Name seiner Familie ist mit einem Makel behaftet, fast wie ein Fluch kommt es ihm manchmal vor. Das liegt an seinem Vater Lorenz, einst Ortsführer von Gröbern im Schrobenhausener Land und Nachbar der Einöde Hinterkaifeck. Seit dort in der Nacht zum 1. April 1922 sechs Menschen ermordet wurden, taucht der Name der Schlittenbauers immer wieder auf. Manche sagen es offen, andere versteckt: Der Ortsführer muss der Mörder gewesen sein. „Obwohl es niemals eine Anklage gegeben hat, obwohl mein Vater nie in U-Haft war.“ Eine Tatsache neben vielen Spekulationen.

Hier geht es nicht ums Wiederkäuen hundertfach diskutierter Theorien, ums Rechthaben oder nicht, sondern allein um die Gefühle eines Menschen, der mit seinen Geschwistern auf seine Art ebenfalls zu den Opfern von Hinterkaifeck zählt. „Warum fragt nie einer, was für ein Mensch mein Vater überhaupt gewesen ist? Das will keiner wissen“, sagt Alois Schlittenbauer. Solange er zurückdenken kann, hat er ihn verteidigt. „Nie und nimmer war er ein Mörder.“ Und er, der Alois, somit auch kein Mördersohn, wie sie ihn oft genug titulierten – damals, als er ein Kind oder ein junger Bursch’ war, und selbst heute noch. Alois lebt seit 1961 ein paar Kilometer südlich von Ingolstadt. Wo, das möchte er nicht in der Zeitung lesen, und ein Bild von sich soll dort auch nicht zu sehen sein. „Sonst fängt es gleich wieder an mit den Frotzeleien.“ Wenn er auf der Straße unterwegs ist, beim Einkaufen im Supermarkt oder beim Karteln im Wirtshaus, dann kann es schon passieren, dass jemand ihn wegen der Geschichte anspricht. Manche halten ihn gar für den Mörder höchstselbst – wie bizarr, wo er doch erst zehn Jahre nach dem Verbrechen zur Welt kam.

Der Vater, das war für Alois Schlittenbauer kein Mörder. „Er war ein hilfsbereiter und fröhlicher Mann, der gern Musik gemacht hat, damit die Leute tanzen können“, erzählt Alois Schlittenbauer. So hat er ihn mal aus Lindenholz geschnitzt, die Querflöte spielend. „Oft ist ihm dabei die Luft ausgegangen, er hat ja so schweres Asthma gehabt. Körperlich wäre er doch gar nicht in der Lage gewesen, so ein Verbrechen zu begehen. Er war eher ein Schwächling, magenkrank und hat früh keine Zähne mehr gehabt. Selbst im Krieg haben sie ihn nicht brauchen können und heimgeschickt, weil er schwach und krank war.“ Überhaupt: Was wäre das Motiv gewesen? Dass er mal mit Viktoria Gruber liiert war? „Das ist doch lange vorbei gewesen, mein Vater war zur Tatzeit schon über ein Jahr mit unserer Mutter glücklich verheiratet – was hätte er da von der Viktoria gewollt?“

Dennoch blieb der Schlittenbauer-Lenz für den Rest seines Lebens stigmatisiert, seine Kinder wurden gehänselt. Dabei galt er als fleißig, seinen Hof in Gröbern hatte er von ursprünglich 42 Tagwerk auf über 81 erweitert, also fast verdoppelt. Da gab es natürlich auch Neider. „Wo dein Vater mit dem Kaifeckerprügel hingeschlagen hat, da lebt keiner mehr“, musste Alois sich als Zehnjähriger sagen lassen. Solche Sticheleien zogen sich durchs Leben. Selbst als zwei Burschen 1949 ins Haus der Schlittenbauers einbrachen und Alois und drei seiner Geschwister durch Messerstiche schwer verletzten, kannte mancher kein Halten. „Da hat sich der Hinterkaifecker rächen wollen“, musste er sich anhören. Ein andermal schickten zwei Frauen in Gröbern den Buben weiter, weil sie „sich nicht erschlagen lassen wollen“.

Alois Schlittenbauer reagiert inzwischen allergisch auf solche Äußerungen, die ihn bis heute verfolgen. „Immer, wenn im Fernsehen was über den Fall kommt, geht’s los. Dann kriegen wir wieder was zu hören.“ Selbst wenn der 83-Jährige nur einen Krimi anschaut, wühlt ihn das auf. „Oft liege ich nachts da und kann nicht schlafen.“ Oder er denkt über den früheren Kriminaler Konrad Müller nach, der für ihn mit seinen Thesen die Hauptschuld trägt, dass der Vater als Täter gehandelt wird. Wobei Müller den Namen Schlittenbauer schon lange nicht mehr in den Mund nimmt.

Sobald neue Theorien auftauchen, wie die mit dem Brief aus dem Elsass (siehe unten), dann ist das wie ein Strohhalm für den 83-Jährigen. Auch wenn andere diese Version längst zerpflückt haben mögen. Kommt endlich Licht ins Dunkel? „Klar, da sind viele Fragen offen, aber das Ganze klingt trotzdem ziemlich schlüssig“, sagt etwa ein Polizeiermittler, der anonym bleiben möchte. „Wenn das Militär tatsächlich seine Finger im Spiel hatte, wäre das eine Erklärung, warum das nie richtig untersucht wurde.“ Eine von zahlreichen Theorien.

Warum soll es der Vater gewesen sein? Zu gern wüsste Alois Schlittenbauer, wer der Mörder ist, bei all den Spekulationen. Es spricht vieles dafür, dass er die bohrende Frage einmal mit ins Grab nimmt.