Kommentar
Ein Hauch "Wir schaffen das"

29.04.2021 | Stand 23.09.2023, 18:18 Uhr

Unvergessen, welche Bilder im Februar 2020 von Donald Trumps Rede zur Lage der Nation um die Welt gingen.

Obwohl die Stimmung schon gereizt war ob des aufziehenden Wahlkampfs, waren versöhnliche Gesten Mangelware. Stattdessen verweigerte der Republikaner der Sprecherin des Repräsentantenhauses, der Demokratin und Lieblingsfeindin Nancy Pelosi, den Handschlag und hielt eine Rede des Eigenlobes. Das Wort "Ich" war oft zu hören. Am Ende zerfetzte die sonst besonnene Pelosi gar das Redemanuskript. Eine peinliche Darbietung der Beteiligten über Parteigrenzen hinweg.

Wie anders sah da der Auftritt Joe Bidens anlässlich seiner ersten 100 Tage im Amt aus. Die neue Ruhe und Verlässlichkeit in Washington ist wohltuend. Unter dem 78-Jährigen zählt das Egos weniger als die Versöhnung. Das zeigte seine Rede sehr deutlich. Sicher, ohne Lob für die bisher geleistete Regierungsarbeit kam Biden auch nicht aus, das ist Politik und war auch seinem Vorgänger im Grunde nie anzukreiden. Doch macht der Ton die Musik.

Biden war staatstragend und für seine Verhältnisse souverän bis locker, vor allem versuchte er zu einen. Er ersetzte etwa wo immer möglich "Ich" durch "Wir". Er will Jobs, Aufbruch, Fortschritt schaffen und verbindet all das mit den Chancen, die der Kampf gegen den Klimawandel für die US-Industrie bietet. Ein Hauch von "Wir schaffen das". Während ihm der Applaus der einen Seite gewiss war, ist es fraglich, ob sich seine Kritiker - ganz gleich ob in Politik oder Wahlvolk - als Teil dieses "Wir" verstehen.

Doch das muss Biden über kluge und ausgleichende Taten erreichen. Denn anders kann er die Gräben einer in schwarz und weiß, arm und reich, liberal und konservativ, abgehängt und privilegiert geteilten Gesellschaft kaum überwinden.

Christian Tamm