Ingolstadt
"Ein Gymnasium für alle? Ja!"

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft rechnet mit dem bayerischen Schulsystem ab

27.03.2013 | Stand 03.12.2020, 0:20 Uhr

Angespannte Gesichter kurz vor der ersten Abiturprüfung (hier Schüler des Reuchlin-Gymnasiums im vergangenen Mai). Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kritisiert, dass das Gymnasium für viele das Maß aller Dinge ist, und fordert stattdessen eine „Schule für alle“ mit gemeinsamem Unterricht bis zur zehnten Klasse. - Fotos: Strisch

Ingolstadt (DK) Die Freien Wähler sind nicht so seine Welt. Letzthin las Manfred Lindner, Kreisvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), im DK den Artikel über die Bildungsdiskussion der FW mit dem provokanten Titel „Ein Gymnasium für alle“ (die Antwort lautet: nein) und musste sich ziemlich ärgern.

Mit Hilfe der GEW-Vorstandskollegen Gabi Gabler und Peter Thierschmann (beide sind Förderlehrer) erklärt Lindner (ein Sozialpädagoge), woran Bayerns Schulsystem krankt, wie eine Lösung aussähe und was Sky du Mont mit der Sache zu tun hat. Christian Silvester stellte die Fragen.
 
 
Was war Ihr erster Impuls, als Sie den Artikel über das FW-Bildungsgespräch gelesen haben?

 Manfred  Lindner: Ich ha be gedacht: Die spinnen! Eigentlich haben wir mit den Freien Wählern beim Volksbegehren gegen die Studiengebühren gut zusammengearbeitet, deshalb war ich enttäuscht, dass die solche Veranstaltungen machen und das bayerische Bildungssystem zementieren mit Aussagen wie „Gymnasium für alle? Nein!“. Da kann ich nur sagen: Was soll das Ganze? Haben die noch nie was von einer Schulstrukturdebatte gehört oder von dem, was etwa die GEW verlautbaren lässt?

 

Bitte!

Lindner: Wir sagen, dass unser Schulsystem dringend reformiert werden muss. Das tragen wir gebetsmühlenartig vor.

 

Seit den siebziger Jahren.

 Lindner : Ja, seit den Siebzigern. Erst mit der Gesamtschule, wobei man den Begriff besser nicht mehr verwenden sollte. Wir sind jetzt für eine Schule für alle. Das waren wir im Prinzip schon immer. Diese Schule beginnt in der Grundschule. Sie wird dann nicht mehr so heißen. Es wird einfach eine Schule sein, und die bleibt im Dorf. Die Kinder müssen nicht mehr hin und her gekurvt werden. Dieser Schülertourismus geht ja schon bei den Mittelschulen los und ist oft unzumutbar. In der Schule für alle werden alle gemeinsam unterrichtet – von der ersten Klasse bis mindestens zur zehnten.

 Gabi  Gabler: Die  FW sprechen vom „Flaggschiff Gymnasium“. Aber was denken Eltern, deren Kinder nicht im Flaggschiff des Bildungssystems sind? Das wird automatisch akzeptiert, Hauptsache, das eigene Kind ist im Gymnasium, und die anderen sind dann dazu da, dass sich das Gymnasium draus hervortut. Es ist nicht bewiesen, dass Kinder mit zehn Jahren immer auf die richtige Spur gesetzt werden und dann den Erfolg haben, den man am Gymnasium erwartet.

 Peter  Thierschmann: Die  Gesamtschule ist gestorben, das ist ganz klar. Aber es gibt etwa den skandinavischen Weg, der bis zur zehnten Klasse alles dabei hat und dann aufteilt in akademisch und berufsbezogen.

 

Unterstellen Sie, dass Schüler an Mittel- und Realschulen nicht bestmöglich gefördert werden?

Gabler: Das ist eine strukturelle Sache, wenn ich mit zehn Jahren auf eine bestimmte Schiene gestellt werde. Es ist ein Mythos, dass die Schularten in der Wahrnehmung der Kinder gleichwertig nebeneinanderstehen. Sie werden nach der vierten Klasse sortiert! Man kann nicht so tun, als würde es Kindern nichts ausmachen, wenn sie es nicht aufs Gymnasium schaffen. Es ist ein Abstieg!

Thierschmann: Man sieht ja, was daraus resultiert: Die Zahl der Aussteiger aus dem System steigt permanent. Es darf nicht sein, dass Kinder so wenig Lust auf Schule haben, dass sie den Unterricht verweigern!

Gabler: Ich will auf keinen Fall sagen, dass die Mittel- und Realschulen nichts leisten. Ganz im Gegenteil! Ich habe eine hohe Meinung von der Pädagogik an der Mittelschule, weil man da auch viel auffangen muss.

Lindner: Diese ganze Schulhierarchie, die da erzeugt wird, verändert auch das Schulwesen total. In der Schule für alle würde ein ganz anderes Lernklima herrschen. Da findet keine Auslese statt. Alle werden mitgenommen. Und der Leistungsgedanke wird zurückgedrängt.

Gabler: Ich halte Leistung für etwas ganz Hochwertiges. Leistung anzuregen ist total wichtig. Das Problem ist aber die normierte Leistungsmessung über die Klasse hinweg. Wenn man jedes Kind die Leistung bringen ließe, zu der es in der Lage ist, und diese Leistung würdigt und das Kind nicht ständig mit anderen vergleicht, dann hätte es größten Spaß an der Schule.

 

Aber wie groß ist die Gefahr, dass leistungsschwache Kinder frustriert oder sogar abgehängt werden, wenn sie mit stärkeren in einer Klasse sitzen?

Lindner: Da habe ich gar keine Angst. Die Grundschulen machen es ja vor. Da sind alle drin, bis auf die fünf Prozent, die in die Förderschulen abgeschoben werden. Die Grundschulen funktionieren bei uns am besten – vom Grundschulabitur in der vierten Klasse abgesehen. In dem System, von dem die GEW spricht, sind in jeder Klasse zwei Lehrer drin, mindestens. Dazu kommen Sozialpädagogen und Psychologen. Die fangen dann die schwächeren Kinder auf.

 

Ein Beispiel aus der Realität: Die sechsstufige Grundschule in Hamburg ist gescheitert, die Eltern wollten sie nicht. 54,5 Prozent haben beim Volksentscheid 2010 dagegen gestimmt.

Gabler: Ja die Eltern! Die diese Prada-Revolution angestrebt haben und Studenten dafür bezahlt haben, dass sie für sie demonstrieren! Die Eltern, die gesagt haben: „Wir entscheiden, wie lange unsere Kinder in die Grundschule gehen!“

 

So ist das in der Demokratie.

Gabler: Natürlich. Aber man hat auch eine demokratische Verantwortung für die Schwachen. Man kann strukturelle Unterschiede wie den geringen Anteil von Kindern aus Migrantenfamilien am Gymnasium in einer demokratischen Gesellschaft nicht einfach so stehen lassen, da muss man eingreifen!

Lindner: In Bayern ist es für ein Arbeiterkind siebenmal schwerer, zum Abitur zu kommen, als für ein Akademikerkind. Das darf nicht sein! Und dass eine Hamburger Bürgerinitiative mit dem Sky du Mont [der Schauspieler, d. Red.] als Galionsfigur die sechsstufige Grundschule verhindert hat, ist bezeichnend.

 

Mit Verlaub, es ist aber schon eine schlichte Argumentation, einen Volksentscheid, der nicht im Sinne der GEW verlaufen ist, auf einen Prominenten zu reduzieren. In Bayern hätte sich in einem ähnlichen Fall vermutlich die Uschi Glas vorne hingestellt.

Gabler: Ich bleibe dabei: Kinder mit Migrationshintergrund sind strukturell benachteiligt. In Bayern gehen 58 Prozent von ihnen in eine Mittelschule, bei den Kindern ohne Migrationshintergrund sind es 26 Prozent. Man muss diesen Kindern eine Möglichkeit geben aufzuholen!

 

Noch einmal zu Ihrer Schule für alle: Die Entscheidung vieler Eltern, ihr Kind aufs Gymnasium zu schicken, ist Ausdruck eines Mehrheitswillens. Es ist auch legitim, nicht mit deutlich schwächeren Schülern in eine Klasse gehen zu wollen. Warum setzt die GEW sich darüber hinweg?

Gabler: Es gibt auch eine Menge Eltern, die mit dieser Struktur nicht zufrieden sind und an Privatschulen drängen.

 

Privatschulen! Es wird doch wohl nicht Ihr Ziel sein, Kinder in Privatschulen umzuleiten.

Gabler: Überhaupt nicht!

Thierschmann: Privatschulen lehnen wir grundsätzlich ab.

Lindner: Aber die kommen immer mehr. Montessori-Schulen schießen wie Pilze aus dem Boden. Und dann haben wir da in Ingolstadt diese Internationale Schule, die ein Schweinegeld kostet. Ich finde zweisprachige Schulen toll, aber sie müssen finanziell für alle möglich sein.

Gabler: Es ist schon klar, dass die Eltern, die heute ihr Kind aufs Gymnasium schicken und da keine Probleme haben, auch keinerlei Interesse entwickeln, das Schulsystem zu ändern.

Thierschmann: Das liegt aber auch daran, dass man bei uns mit dem Abitur letztlich nur was erreichen kann, wenn man den akademischen Weg einschlägt. Ein Weg, der in Bayern für die Meister vereinfacht worden ist [seit 2009 dürfen Handwerksmeister ohne einen weiteren Leistungsnachweis studieren, d. Red.], was ich richtig finde. Und ich verstehe auch die Eltern, die sagen: „Ich probiere alles in der vierten Klasse, damit mein Kind es schafft, ins Gymnasium zu gehen.“ Das ist doch legitim!

Gabler: Ja, es haben alle Eltern das Recht dazu. Es sollten aber alle Eltern auch die Möglichkeit dazu haben. Deshalb: Ein Gymnasium für alle! Oder wie wir es immer nennen.

 

Wo ist da eigentlich noch der Unterschied zur Gesamtschule, deren Namen man besser nicht mehr aussprechen sollte?

Thierschmann: Nennen wir es doch Gemeinschaftsschule.

Gabler: Das ist was anderes!

 

In der Gemeinschaftsschule, die es in mehreren Bundesländern gibt, und die auch die Bayern-SPD will, werden bis zur Sechsten alle gemeinsam unterrichtet.

Lindner: Das wäre höchstens eine Übergangsgeschichte.

Thierschmann: Man muss dran denken, dass es Kinder sind, um die es geht. Man darf den Kindern unserer Zukunft nicht das Kindsein wegnehmen! Das stört mich sehr, dass viele nicht mehr in der Lage sind zu akzeptieren, dass ein Kind auch mal ein Jahr länger Kind sein kann.

 

Wie lange wird es noch Mittelschulen in Bayern geben?

Thierschmann: Den Namen Mittelschule? Der kann sich schnell ändern. Oder die Mittelschule selber?

 

Die Mittelschule selber.

Thierschmann: So wie sie ist, gibt es sie vielleicht noch fünf Jahre. Dann wird sie mit der Realschule zusammengelegt.

 

Und wann führt Horst Seehofer ein neunstufiges Gymnasium ein?

Lindner: Wenn es zu einem Volksbegehren für das neunstufige Gymnasium kommt, fällt der Seehofer sofort um.