Pfaffenhofen
Ein Blick hinter die Fassade

Lutz-Stipendiat Matthias Jügler liest im Rathaussaal – und den Pfaffenhofenern die Leviten

12.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:08 Uhr

Keine Scheu vor heiklen Themen: Lutz-Stipendiat Matthias Jügler (links) bei seiner Abschiedslesung im Rathaussaal, die von Kulturreferent Steffen Kopetzky moderiert wurde - Foto: Roland Scheerer

Pfaffenhofen (PK) Mit einem bemerkenswerten und kontroversen Beitrag hat der Leipziger Schriftsteller Matthias Jügler am Samstagabend die öffentliche Abschlusslesung seines Pfaffenhofener Schreibaufenthalts nachgeholt. Und dabei auch den Pfaffenhofenern etwas die Leviten gelesen.

Der 30-jährige Joseph-Maria-Lutz-Stipendiat stellte vor etwa fünfzig Zuhörern im Rathaussaal zunächst sein Romandebüt vor, anschließend einen eigens für Pfaffenhofen verfassten Text. Von Mai bis Juli dieses Jahres hatte Jügler als Stadtschreiber im Flaschlturm gewohnt und gearbeitet.

„Raubfischen“ erzählt von einer Beziehung zwischen Enkel und Großvater. In eindrucksvollen Momentaufnahmen entsteht das Bild eines nicht enden wollenden familiären Rollenspiels. Schwer lastet das Tabu einer unheilbaren Krankheit auf den Gesprächen, etwa wenn „die Großmutter klingt, als imitiere sie jemanden, der seinem Enkel zum Geburtstag gratuliert.“ Aus dem Roman hatte Jügler bereits am Freitag vor einer interessierten Zuhörerschaft am Schyren-Gymnasium gelesen. Das Buch wird kommendes Frühjahr im Aufbau-Verlag erschienen.

Mit persönlichen Worten bedankte sich der Autor, der seinem Publikum sehr kontaktfreudig entgegentritt und es umstandslos duzt, für die Unterstützung, die ihm mit dem Stipendium zuteil wurde. Dessen Statuten verlangen, dass sich der Geförderte auch mit Pfaffenhofen literarisch auseinandersetzt. Matthias Jügler hat dafür eine ungewöhnliche Form gewählt: die mit Film- und Audioeinspielungen angereicherte Reportage. Die Inspiration liefert Ende Mai die Videoaufzeichnung von Neonazi-Krawallen in Dortmund, die ihn schockieren. Da ihn die Bilder nicht zur Ruhe kommen lassen, kann der Autor nicht anders, als sich zu fragen, ob es auch in dem beschaulichen Provinzort, wohin es ihn zum Schreiben verschlagen hat, Fremdenfeindlichkeit gibt.

Dass die NPD, anders als in seiner Heimatstadt, hier keine nennenswerte politische Kraft darstellt, kann Jügler nicht beruhigen; er will hinter die Fassade der weltoffenen, wohlhabenden und toleranten Kreisstadt blicken.

Er befragt Menschen auf der Straße und bekommt prompt Unschönes zu hören: Einwanderer seien zwar willkommen - aber sie sollten „nicht ihren Glauben mit ins Land bringen“, denn hier gebe es „einen anderen Gott“; „viele“ kämen, um das Sozialsystem auszunutzen, aber, „nein, persönlich kenne ich keinen solchen Menschen“; ein Teenager hält „die meisten Ausländer“, die ja „nur zu Gast“ seien, für aggressiv. So weit, so peinlich. Einen „Überschuss an Weltoffenheit“, resümiert Jügler, habe er in Pfaffenhofen jedenfalls nicht feststellen können.

Auf der anderen Seite spricht er mit Migranten – einem jungen Mann aus Syrien, der Zeuge grausamer Verbrechen wurde, und einem tüchtigen Bauarbeiter aus dem Kosovo, der in der Heimat gerade den dritten Gedichtband herausgegeben hat. Es wird klar: sie repräsentieren in allem das Gegenteil dessen, was gängige Vorurteile glauben machen wollen.

Unnötig, zu sagen: Ein solcher Beitrag polarisiert. Man mag einwenden – und Jügler gesteht dies unumwunden zu –, dass die gesammelten Äußerungen nicht repräsentativ sind: Wie wurden die Interviewpartner ausgewählt, wo bleibt der Internationale Kulturverein, wo die Türkische Nacht mit Hunderten begeisterter Besucher? Aber es steht dem Autor frei, ausgewählte Äußerungen, die er für symptomatisch hält, zum Gegenstand seiner Reflexion zu machen; es braucht keine breit angelegte wissenschaftliche Studie, um über niederschwellige Fremdenfeindlichkeit ins Gespräch zu kommen. Pfaffenhofen liefert hier nur das Exempel; ähnliche O-Töne hätte Jügler auch anderswo aufnehmen können.

Etwas heikel ist die unausgesprochene Frage, ob man nicht einen, nun ja, gefälligeren Text hätte erwarten dürfen, der der Stadt auch ein wenig schmeichelt. Aber dies gerade macht ja das Amt des Stadtschreibers aus: Seine Objektivität besteht darin, dass er, der wieder abreist, wenig Rücksicht auf örtliche Befindlichkeiten nehmen muss, und dass er uns deshalb mit einer Offenheit den Spiegel vorhalten kann, die andere sich nicht erlauben; damit ist das Stipendiengeld gut angelegt. Ob sich Pfaffenhofen dann im Spiegelbild wiedererkennt – darüber kann nun an langen Winterabenden am Kachelofen und in den Wirtsstuben diskutiert werden. Letztlich wird es darum gehen, ob man einen bestimmten Bodensatz an Vorurteilen zähneknirschend als unausrottbar akzeptiert – oder sie, wie Jügler, in jeglicher Erscheinungsform unerträglich findet. Das Problem möglicher eigener Voreingenommenheit hat Jügler in seiner Reportage übrigens nicht ausgeblendet. Und so ist zu wünschen, dass auch künftige Stipendiaten eher kritische als allzu gefällige Texte liefern.

Matthias Jügler hatte sich nach seiner Ankunft in Pfaffenhofen übrigens auch mit dem heimischen Dichter Joseph Maria Lutz, dem Namensgeber des Stipendiums, beschäftigt. Man mag darüber spekulieren, ob seine Themenwahl, bei aller aufrichtigen Dankbarkeit gegenüber der Stadt, nicht auch ein Versuch der Distanzierung ist – angesichts der wenig ruhmreichen Rolle, die jener als NS-Mitläufer gespielt hat.