Eichstätt
"Eichstätt ist eine Lazarettstadt"

07.05.2010 | Stand 03.12.2020, 4:02 Uhr

Der Leiter der Militärkrankenhäuser Oberfeldarzt Dr. Karl F. Kreckel: "Eichstätt war eine Lazarettstadt". ? Reproduktion: je

Eichstätt (EK) "Die ganze Stadt bildet jetzt ein Ambulatorium von hinkenden, einbeinigen und einarmigen bedauernswerten Menschen." Dies schrieb Professor Dr. Ferdinand von Werden in sein Tagebuch über die Zeit am Ende des Zweiten Weltkriegs und die Wochen danach.

Offizieller Tag der deutschen Kapitulation ist der 8. Mai 1945. In die Stadt Eichstätt waren bereits am Vormittag des 25. April amerikanische Soldaten eingezogen. Über die turbulenten Tage um das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Not, den Hunger, die Angst bis in den Sommer 1945 hinein gibt es viele authentische Schilderungen von Zeitzeugen. Das Leben begann sich erst im Herbst zu normalisieren, als auch die Schulen wieder öffneten und die Tageszeitung ab 11. Dezember 1945 herauskam.

Wertvolle Schilderungen der Kriegstage und der Zeit danach sind dem Tagebuch des Geistlichen Ferdinand von Werden zu verdanken: "In der Stadt war ein Trubel und Durcheinander wie es Eichstätt noch nie in den Jahrhunderten seiner Geschichte erlebt hat. Alle Nationen, rund 14 000 Russen, Polen, Franzosen, Slowenen, Litauer, Letten, Amerikaner, Neger, Mongolen, Chinesen, Menschen vom Balkan und der Türkei drängten und zwängten sich durch die Straßen, zum guten Teil ausgehungert und bis aufs Äußerste erschöpft. Alles, was sich ringsum seit drei bis vier Wochen in den Wäldern angehäuft hatte, an Kriegsgefangenen und Flüchtlingen, Mann, Weib und Kind schien hier aus dem Boden zu schlüpfen und Brot zu heischen. Es ist eine unsägliche Not, es kommt stellenweise zu Plünderungen und Gewalttaten."

Wieder Strom

Der Schriftsetzer und Gesellenhausmeister Martin Egner berichtete in der Chronik "90 Jahre Kolpingfamilie Eichstätt" davon, dass es in der Stadt wegen der Brückensprengungen (durch deutsche Soldaten) kein Gas, keinen Strom und kein Wasser gab. Doch schon am 3. Mai wurde wieder Strom in die Haushalte geliefert. Am 17. Mai 1945 wurde nach sechsjähriger Dauer das Gebot der nächtlichen Verdunkelung aufgehoben.

Als die amerikanischen Soldaten heranrückten, verließen die nationalsozialistischen Parteibonzen und SS-Leute, die die Menschen geknechtet hatten und durch sinnlose Sprengungen hohe Schäden am eigenen Volk anrichteten, fluchtartig das Altmühltal in Richtung Süden. Der von ihnen geforderte Mut, Durchhaltewillen und Kampfgeist bis zur letzten Patrone hatte sie verlassen. Vor dem Abzug wurden noch zwei Männer, die die Sprengung der Spitalbrücke verhindern wollten, auf dem Leonrodplatz von der SS aufgehängt.

Ehe er verschwand, übergab Bürgermeister Hans Rösch die Geschäfte an Stadtoberinspektor Josef Kleber und Stadtkämmerer Joseph Meier. Sie schickten am 25. April den Stadtarbeiter Anton Halbich mit der weißen Fahne den amerikanischen Panzern entgegen. Eine detaillierte Aufzeichnung der Einnahme Eichstätts bewahrt Konservator Albert J. Günther im Cobenzlschlösschen auf. Die Dokumentation stammt von den US-Streitkräften; das Original ist im Nationalarchiv Washington.

Stadtoberinspektor Kleber wandte sich am 4. Mai 1945 "an die Bevölkerung von Eichstätt". Darin stellte er fest, dass die amerikanische Militärregierung weitgehendstes Verständnis für unser Schicksal bewiesen habe. "Unsere altehrwürdige Stadt zeigt nur geringfügige Spuren des Kampfes", so Kleber, "es ist die Pflicht eines jeden ehrlich denkenden Menschen, dafür zu sorgen, dass die Wucherungen des absterbenden Systems geheilt, und dem wahrhaft Guten, Wahren und Edlen Platz gemacht wird." Hauptaufgaben seien die Lebensmittelversorgung, der Wiederaufbau und die Linderung der größten Not.

Josef Klebers Amtszeit endete am 9. Mai. Bereits am 4. Mai hatte die US-Militärregierung im Stadttheater eine Wahl angesetzt. Landrat wurde der Jurist Otto Betz, der Eichstätter Bürgermeister von 1919 bis 1934 war, als er von den Nazis abgesetzt wurde. Zum Bürgermeister wurde Oberverwalter Romuald Blei bestimmt.

Erst vor fünf Jahren ging bei der Stadtverwaltung in Eichstätt ein Brief aus Sindelfingen ein. Darin beschrieb der Arzt Dr. Carl Kreckel, wie er als Bub die Wochen um das Ende des Zweiten Weltkriegs und danach erlebt hat und gab die Schilderungen seines Vater wieder, der Leiter der Eichstätter Lazarette war. Der Chirurg und Oberfeldarzt Dr. Karl F. Kreckel hat zum Beispiel zwei Tage fast pausenlos operiert, als die englischen Kriegsgefangenen am 14. April 1945 versehentlich von der Besatzung eines amerikanischen Tieffliegers beschossen wurden. Die 46 verwundeten Engländer wurden ins deutsche Lazarett gebracht. 14 Männer starben.

Hitlerjungen geholfen

Oberfeldarzt Kreckel hat einer Reihe von Hitlerjungen geholfen, indem er ihnen Krankenkleidung anzog und sie ins Bett steckte. In zähen Verhandlungen hatte er erreicht, dass die SS (Schutzstaffel) Eichstätt verließ und so eine Bombardierung durch die amerikanischen Truppen verhindert. Sein Hauptargument war: "Eichstätt ist Lazarettstadt". Kreckel arbeitete noch Wochen nach der Kapitulation in den Krankenabteilungen, die sich in der Jugendherberge, der Landwirtschaftsschule, dem Priesterseminar, der Lehrerbildungsanstalt, dem Salesianum im Rosental, im Englischen Institut und im Städtischen Krankenhaus befanden.

Der Dunsdorfer Lorenz Obermeier hat den Tag der Kapitulation zeitlebens nicht vergessen. Er ist am 8. Mai 1945 mit einem Sturzkampfbomber (Stuka) auf einem Kartoffelacker beim Riedelshof (Gemeinde Denkendorf) gelandet. Gestartet war er mit drei Kameraden an Bord auf dem Feldflughafen Reichenberg im Sudentenland und erreichte trotz Beschusses um 19.45 Uhr das Altmühltal. Das Flugzeug wurde bei der Landung beschädigt, die vier Insassen blieben unverletzt. Lorenz Obermeier hat von dem Bravourstück gern erzählt. Er war damals 25 Jahre alt, gestorben ist er 1996.