Ingolstadt
Dieses Heimat-Dings

Mehr als Familiengeschichten: Ulrike Hatzers kluges Dokumentartheater

01.05.2022 | Stand 23.09.2023, 1:05 Uhr
Immer irgendwo dazwischen: Judith Nebel, Olga Martin, Michael Amelung und Martin Valdeig (von links). −Foto: Jochen Klenk

Ingolstadt - Wie anfangen?

Mit Antonia, die vor dem Kleiderschrank steht und überlegt, was sie anziehen soll? Also mit der Gegenwart? Mit der Sonnenfinsternis von 1999, als Irmgard und Helga, beide schon über 70, wie alle anderen komische Schutzbrillen tragen und in den Himmel starren. Da dürfen sich die beiden Schwestern endlich wieder treffen, nachdem die eine nach ihrer Flucht aus Kasachstan in den 50ern lange in der DDR gelebt hatte, die andere in den 80ern nach Westdeutschland umgesiedelt war. Oder viel früher - mit der Liebesgeschichte von Irmgard und Aruzahn, die 1943 beginnt? Die Wolgadeutsche und der Kasache! Keiner hätte geglaubt, dass die beiden eine gemeinsame Zukunft haben könnten. Aber Aruzahn war eben schon immer ein Träumer. Ja fangen wir hier an. Mit dieser übermütigen Liebe. Und eilen dann mit Siebenmeilen-, nein Siebenjahresstiefeln durch die Zeit. Beobachten wir das Misstrauen ihrer Väter Hans und Ildar. Wie ihre Kinder Irina und Arman heranwachsen. Und Arman mit seiner Familie 1985 nach Deutschland zurückkehrt. Da, wo sie noch nie waren. In die Heimat der Vorfahren. Für eine bessere Zukunft. Nur einen Koffer darf jeder mitnehmen. Und in einem dieser Koffer befindet sich ein Rock.

"Wenn der Rock, den du trägst, älter ist als du" heißt das Stück von Katharina Schlender, das unter der Regie von Ulrike Hatzer am Samstagabend im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt seine Uraufführung feierte. Für dieses "recherchebasierte Dokumentartheater" hatte die Regisseurin viele Gespräche geführt in Ingolstadt - mit Russlanddeutschen, Deutschrussen, (Spät-)Aussiedlern, mit Menschen aus dem Kultur- und Bildungsverein, mit der Integrationsbeauftragten der Stadt. Basierend auf all diesen Geschichten hat Katharina Schlender ihr Stück geschrieben - einen starken, hoch poetischen Text aus federleichten und scharfkantigen Sätzen, der sich aus Erinnerungen und Emotionen speist, aus Ängsten und Sehnsüchten, aus Verlust und Hoffnung. Der Fragen stellt und infrage stellt. Der behutsam Fakt und Fiktion verwebt zu einer allgemeingültigen Erzählung über das Weggehen und das Ankommen, das Anderssein und das Dazugehören wollen.

Ausstatterin Marianne Hollenstein hat das Kleine Haus mit Wimpelgirlanden geschmückt. Sechs runde Tische mit bunt zusammengewürfelten Stühlen warten auf eine Festgesellschaft. Oben, auf der Bühne befindet sich ein kleiner Kubus. Der ist drehbar und wird später zum Haus, in dem Hans mit Irmgard und Helga lebt. Auf einer kleinen Staffelei am rechten Bühnenrand informiert ein Abreißkalender über das Jahr, in dem wir uns befinden. Es gibt melancholische Umbaumusik, und stets läutet ein Kameraklicken eine neue Episode ein.

Michael Amelung, Steven Cloos, Paula Gendrisch, Judith Nebel und Martin Valdeig teilen sich die Rollen, schlüpfen in immer neue, spielen sich durch die Generationen, erzählen von Heimat und Sprache, Politik und Gesetzen. Der Clou aber ist das Stadtensemble, das schon zu Beginn an den Tischen Platz genommen hat, das Spiel des Quintetts genau beobachtet, immer wieder kommentierend eingreift, von eigenen Erinnerungen berichtet. Sie blättern in Fotoalben, tragen Koffer, sprechen Russisch, singen, erzählen vom gesellschaftlichen und sozialen Druck, von Butterzuckerbrot und vom Nichtdazugehören. Es sind ihre Geschichten, die da verhandelt werden. "Dieses Heimat-Dings. Dieses Herkunfts-Dings. "

Und so wie Regisseurin Ulrike Hatzer dieses Stadtensemble einbindet - als vielstimmigen Chor, als Korrektiv, als Spiegel - gelingen dieser Inszenierung berührende Momente von großer Wahrhaftigkeit. Nach zwei Stunden gibt es langen Applaus für diesen so herzzerreißenden wie erkenntnisreichen Abend!

DK

ZUR PRODUKTION

Theater:

Kleines Haus,

Stadttheater Ingolstadt

Regie:
Ulrike Hatzer
Vorstellungen:

bis 29. Mai, ab 15 Jahre

Kartentelefon:

(0841) 30547200

Anja Witzke