Ingolstadt
Diese Jugend - ein Gedicht

Am Katharinen-Gymnasium pflegen Schüler aller Jahrgangsstufen eine unerwartete Begeisterung für Lyrik

29.12.2019 | Stand 23.09.2023, 9:59 Uhr
Musik zur Einstimmung gehört in den Lyrik-Workshops des Katharinen-Gymnasiums dazu: Hier singt Lilja Teckentrup an der Ukulele als Gast "Heart Broken". Hinten in der Mitte der Lehrer Michael Ernest. Im Frühjahr werden die Schüler wieder öffentlich auftreten. −Foto: Silvester

Ingolstadt - Es bedurfte einigen Mutes, schließlich galt es, auch höchst Persönliches im Rampenlicht von sich preiszugeben.

Doch im Mai dieses Jahres wagten sie den großen Schritt. Die Kinder und Jugendlichen traten nacheinander auf die kleine, von drei Scheinwerfern erhellte Bühne. Hinter ihnen eine weiße Leinwand, vor ihnen die randvoll besetzte Aula des Katharinen-Gymnasiums. Mehr als 150 Gesichter blickten den Schülern erwartungsfroh entgegen. Sogleich fegte ein Gefühlssturm über die Gäste hinweg. Sie erlebten ergreifende lyrische Texte über seelische Erkrankungen und andere existenzielle Krisen junger Leute, heitere Gedichte auf Deutsch und Englisch oder Romantisches wie weniger Romantisches über die Liebe. Die Dichterinnen und Dichter - sie besuchen am Katherl die Jahrgangsstufen 6 bis 12 - manövrierten virtuos mit Satzbau, Reimen, Metren und Metaphern, schmetterten ihre Werke couragiert dem erkennbar berührten Publikum entgegen. Jubel tönte zurück. Gedicht für Gedicht.

Der erste "Abend der Poesie" im Katharinen-Gymnasium geriet für alle Beteiligten zu einem magischen Moment. Im Frühjahr wollen die Jugendlichen erneut auftreten. Die Begeisterung für das Verfassen und Vortragen von Gedichten, die Schüler aller Jahrgangsstufen ergriffen hat, mag erstaunen: Was ist los mit dieser Jugend von heute, von der es seit Jahrhunderten wehklagend heißt, sie lese nicht mehr? Und jetzt dichten sie plötzlich! Jedenfalls einige; am Katherl sogar erstaunlich viele.

Der über 20 Mitglieder starke "Workshop Lyrik" - kein Wahlfach, sondern eine ganz und gar freiwillige Runde - trifft sich alle paar Wochen mit dem Deutschlehrer und gleichwohl begeisterten Lyriker Michael Ernest, um sich gegenseitig neue Texte vorzulesen. Was ist da los?

Es würden wesentlich mehr Jugendliche Geschichten oder Gedichte schreiben, als man gemeinhin glaubt, sagt Ernest, allerdings täten sie es meist heimlich, ganz für sich. Schaffe man für sie aber einen entspannten kreativen Freiraum, eine Gemeinschaft sich gegenseitig beseelender und bestärkender Literaturenthusiasten, so fänden viele Jugendliche den Mut, ihre Gedanken und Gefühle mitzuteilen, sagt Ernest - zuerst in der kleinen Runde des Workshops, später vor großem Publikum. "Man muss sich nur trauen. "

Die jungen Lyriker haben heuer außerdem mit der Schülerzeitung "Concrete" den 100-seitigen Band "Gedichte und Slam Poetry von Schülern und Lehrern" herausgegeben. Auf Papier. Das Katherl macht es Kulturpessimisten echt schwer.

Naemi Winter (Q11) hat sich zuletzt mit einem persönlichen Zwiespalt auseinandergesetzt: Jenem zwischen der Liebe zu ihrer Heimat Ingolstadt und dem Wunsch, einmal in einer richtigen Großstadt zu leben. "Heimat ist ein Gefühl, ein abstraktes Konstrukt, ein Lächeln, in das man sich verguckt. " Doch dann das: "Wenn Heimat nur aus einem Land besteht, in dem ich geboren worden bin aus reinem Glück, dann wäre das verrückt, sozusagen stolz zu sein auf etwas, für das man gar nichts kann. Also erfind' dich neu oder bleib' dir treu und sei stolz auf alles, was tu tust. "

So perlt Naemis Suche nach der Heimat zwei Minuten lang im Poetry-Slam-Stil ihres Weges. Wie lange hat sie dafür gebraucht? "Wenn ich im Schreib-Flow bin, zehn Minuten. " Und als sie sich literarisch an Ingolstadt abarbeitete, war sie wirklich im Flow. Es komme immer auf die Inspiration an: "Wenn mich etwas bewegt, wenn ich traurig oder glücklich bin, dann schreibe ich ein Gedicht. "

Auch die Neuntklässlerin Lena Botsch präsentiert ein mitreißendes Gedicht, metrisch wie aus einem Guss. Sie entzaubert Märchenprinzen, denn auf die könne man ewig warten. "Dein Happy End, das musst du selber schreiben", heißt es am Schluss. "Ich will damit ausdrücken, dass man sich immer selber um etwas bemühen muss", erzählt die Schülerin.

Kujtim Avdija, einer der raren Jungen im Workshop, "braucht keine Muße, um ein Gedicht zu schreiben, sondern Lust", erzählt der Zwölftklässler. Oder er dichte aus Langeweile, "zum Beispiel, wenn ich mir im Ethikunterricht die Zeit vertreiben will, dann schreibe ich drauf los - irgendeine Idee kommt schon auf mich zu". Ein Gedicht hat Kujtim mal "bei Herrn Ernest im Unterricht geschrieben - immerhin im Fach Deutsch".

Warum sind die Mädchen im Workshop klar in der Mehrheit? Gelten Männer, die reimen, gar als uncool? "Ja, ich bin uncool", sagt Kujtim grinsend in das anschwellende Gelächter hinein. "Gedichte müssen nicht immer hochemotional sein, aber sehr oft sind sie es. Ich finde, dass sich viele Jungs deshalb scheuen, Poesie zu schaffen, weil sie es sich nicht trauen, ihre Gefühle auszudrücken. Ich glaube, dass viel mehr Jungs Gedichte schreiben würden, wenn sie ein angenehmes Umfeld hätten, in dem sie es sich trauen könnten - also nicht nur Jungs, die ihnen sagen, dass dichten uncool ist. "

Michael Ernest hat mit 24 sein erstes Gedicht geschrieben, aber mitbekommen habe das nahezu niemand, erzählt er. Es freue ihn nun zu sehen, "dass auch Jungs emotionale Texte schreiben und sie sogar öffentlich vortragen". Das, glaubt der 47-jährige Lehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde, "hätte es vor zehn Jahren noch nicht gegeben - oder dass man als Junge auch nur zugibt, überhaupt Emotionen zu haben".

Der erste Schritt auf eine große Bühne fällt allen nicht leicht, Buben wie Mädchen. Laura Benic und Clara Drechsler (Q11) berichten vom unvergesslichen "Abend der Poesie": "Trotz meines Lampenfiebers fand ich es eine gute Erfahrung, dass man etwas Persönliches auch teilt. Es war schön, anderen seine Gedanken mitzuteilen. " Und: "Man fühlt sich großartig, wenn man da oben steht, sich in seinen Text vertieft und seine Gefühle preisgibt, wenn man diesen Raum hat und jeder das Gedicht interpretiert, wie er will. "

Auch Lena Botsch, damals Achtklässlerin, war sehr nervös. "Aber als ich dann auf der Bühne stand, war mir alles egal. Es hat mich gefreut, dass die Leute, die da unten sitzen, sehen, wer ich eigentlich wirklich bin."

Textbeispiel

du und ich

du und ich
zwei singulare
fliehen in den plural
suchen das wahre.

doch ganz allein
ist es schwer
denn ein singular
wird so nicht mehr.

und zwei nur im versuch
mal ein plural zu sein
machen dich und mich
nicht weniger allein.

denn du und ich
waren nur du und ich
aber ein wir
war es noch nicht.

Nina Streitenberger,
Schülerin der Q11

Christian Silvester