Die Welt ist eine Scheibe

21.01.2010 | Stand 03.12.2020, 4:19 Uhr

Tragödie im wohl situierten Mittelstand: Szene aus Ewald Palmetshofers Stück "Faust hat Hunger und verschluckt sich an einer Grete" in der Augsburger Komödie. - Foto: Theater Augsburg

Augsburg (DK) Der Mann wagt sich an das ganz Große. Nach "hamlet ist tot. keine schwerkraft" nahm sich der Nachwuchsdramatiker Ewald Palmetshofer gleich auch noch den Faust-Stoff vor. Immerhin hat er selbst ja Philosophie, Psychologie und Pädagogik und durchaus auch Theologie studiert.

Der junge Österreicher hört hin: Auf das sprachliche Gesabber im Alltag, die Peinlichkeiten des Small Talks und des "Ich sag mal", achtet auf die Sprachverschluderung in Fernsehen, Radio und Werbung, die längst unser Sprechen okkupiert hat, er reibt sich an dem, was Ingeborg Bachmann – auch eine, in deren Spuren er geht – einmal das Geschwätz genannt hat. Gleichzeitig ist Palmetshofers Sprache künstlich, konstruiert, er lässt die Verben weg, kehrt die Sätze gegen sich selbst, und verweist mit den grammatischen Leerstellen auf die semantischen. Für die Schauspieler ist das eine große Herausforderung, die Karoline Reinke, Friederike Pöschel, Judith Bole, Alexander Koll, Michael Stange und ein wieder einmal bemerkenswerter Andrè Willmund in der Augsburger Komödie bravourös meistern.

Sie sind drei Pärchen, Thirthysomethings, wohl situierter Mittelstand mit einem gewissen kleinbürgerlichen Appendix, die sich zum Essen treffen, ins Wellness-Hotel fahren, und zu deren Kreis zwei Freunde stoßen, Faust und Grete. Und so wird die alte Geschichte in der Gegenwart noch einmal erzählt. Die beiden werden ein Paar, Grete bekommt ein Kind, Faust macht sich aus dem Staub, Grete bringt das Kind im Wald um.

Doch Palmetshofer erzählt die Geschichte nicht so einfach, und der junge Regisseur Fabian Adler hat zusammen mit Ines Nadler (Bühne und Kostüme) eine adäquate dramaturgische Umsetzung dieser Erzählweise gefunden. Die Bühne ist eine drehbare Sitzlandschaft – oder die Welt eine Scheibe, je nachdem, welche Sichtweise man wählt, die kleinbürgerliche oder die faustische, wobei Palmetshofer dabei wahrscheinlich keinen Unterschied macht. Auf dieser Scheiben-Sitzkissen-Welt turnen und springen die Schauspieler herum, spielen nicht nur, sondern erzählen die Geschichte, greifen vor, kommentieren, fallen sich ins Wort – und aus der Rolle. Denn Faust und Grete werden von ihnen abwechselnd gespielt. Wir sind Faust, und wir sind auch Grete. Und Palmetshofer lässt nichts aus. Postmoderne und Dekonstruktion, Gender Studies und Popkultur, Doku-Soap und Lindenstraße, das Hohe und das Tiefe, das Schwere und das Leichte – ich bin so gegenwäääärtig, schreit uns das Stück manchmal zu laut entgegen, aber man verzeiht es ihm. Und ja, das ist mitunter sperrig, vor allem wenn Andrè Willmund als Faust zu einem seiner langen Monologe ansetzt, etwa über des Menschen (nicht des Pudels) Kern, das ist gleichzeitig aber immer auch klug, fordernd, intelligent und witzig.

Palmetshofer hat sich mit seinem ehrgeizigen Stück durchaus nicht verhoben, Fabian Adler ebenso nicht. Nur dass, sollte dieser Faust einen zweiten Teil bekommen, hier jemand erlöst werden könnte, darauf werden wir – anders als in klassischen Zeiten – wohl vergeblich warten. Auch das ist gegenwärtig.