München
Die Welt als Irrenhaus

Bilderpralles Revolutions-Panoptikum: "Marat/Sade" von Peter Weiss im Münchner Residenztheater

28.09.2018 | Stand 02.12.2020, 15:34 Uhr
Mit einer sehr politischen Inszenierung ist das Residenztheater in München am Donnerstagabend in die neue Spielzeit gestartet. "Marat/Sade" nach einem Stück von Peter Weiss mit Charlotte Schwab, Nils Strunk und Thomas Lettow spielt wenige Jahre nach der Französischen Revolution. −Foto: Horn

München (DK) Alle großen Regisseure der 1960er-Jahre - von Peter Brook über Hansgünther Heyme bis zu Hans Neuenfels - haben dieses Kultstück der APO-Ära des in der Nähe von Potsdam geborenen und im schwedischen Exil als avantgardistischer Filmeregisseur bekannt gewordenen Autors Peter Weiss (1916-1982) höchst unterschiedlich interpretiert.

Ob als historisches Dokumentardrama oder als anti-illusionistisches Theater, als Stück über zerstobene Hoffnungen einer Revolution oder als Darstellung der Welt als Irrenhaus.

Dies alles und noch viel mehr lässt sich aus diesem 1964 in Berlin uraufgeführten Drama mit dem sperrigen Titel "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter der Anleitung des Herrn de Sade" herauslesen. Und die Regisseurin Tina Lanik hat zum Spielzeitauftakt des Münchner Residenztheaters all diese Lesarten zusammengemixt. Entstanden ist damit ein Revolutions-Panoptikum mit Ingredienzen aus Brechts epischem Theater und blutrünstigen Grand Guignol-Schauerszenen, aus schwarzer Psychotragödie und buntem Jahrmarktsgrusical. Von allem ein paar Häppchen, die sich freilich nur sehr bedingt zu einem spannenden Theaterabend fügen.

Die von Peter Weiss in diesem Stück aufgeworfene Problematik der Revolution, die ihre Kinder frisst, kommt bisweilen freilich auch sehr papieren daher: Gestützt auf historische Geschehnisse während und nach der Französischen Revolution zwischen 1789 und 1793 und unterfüttert von der Furcht vor der Umkehrung aller Werte durch die radikale Rechte am Ende von politischen und sozialen Umwälzungen lässt Weiss den Skandalautor Marquis de Sade (Charlotte Schwab) als Zombie auftreten. In seinen letzten Lebensjahren wurde er "zu seinem eigenen Schutz" in die Psychiatrie von Charenton eingewiesen. Mit den Insassen dieser psychiatrischen Klinik studiert er hier Episoden vom Ende der Französischen Revolution bis zum Aufstieg Napoleons ein. Höhe- und Schlusspunkt dieser Szenen zwischen engagiert vorgetragenen Menschenrechtsforderungen und reaktionären Hasstiraden, zwischen persönlichen Eifersüchteleien und nachgestellten Guillotine-Exzessen durch die Psychiatriepatienten (Pauline Fusban, Thomas Gräßle, Thomas Lettow, Michelle Cuciuffo, Joachim Nimtz, Wolfram Rupperti und Götz Schulte) ist die flammende Rede des Revoluzzers Jean Paul Marat für eine von Humanität, sozialem Fortschritt, Völkerfreundschaft und Uneigennützigkeit geprägten Welt.

Wenigstens diese Szene, in der Nils Strunk als Marat, begleitet von fetzigen Rapgesängen seiner Anhänger (komponiert von Cornelius Borgolte), eine gerechte Wirtschafts-, Sozial- und Werteordnung mit eingefügten aktuellen Bezügen (samt lautstarker Unterstützung von Schauspielern im Zuschauerraum) einfordert, kann diese Neuinszenierung gewaltig punkten. Schließlich ist diese leidenschaftlich vorgetragene Aufforderung nicht nur überzeitlich, sondern gerade in diesen Wochen und Monaten ein Appell gegen Rechts. Doch die Reaktion marschiert: Nach dieser flammenden Rede wird Marat von Charlotte Corday (Lilith Häßle), die ihn als Hauptverantwortlichen der Schreckensherrschaft der Jakobiner sieht, in einer mit Revolutionsblut überquellenden Badewanne im Sex- und Blutrausch erstochen: Die Hoffnung auf eine gerechtere Welt ist zerstört, die alten Eliten übernehmen wieder die Macht.
Eine vom Premierenpublikum umjubelte Aufführung, die trotz dieser packenden Schlussszenen letztlich etwas blass blieb. Aber das liegt nicht an Tina Laniks bilderpraller und aktualisierter Inszenierung, sondern ist dem bisweilen hohlen Pathos dieses Stückes geschuldet.

Weitere Termine: 1. und 22. Oktober. Kartentelefon (089) 21851940.