Die Tücken des Taekwondo

04.08.2009 | Stand 03.12.2020, 4:45 Uhr

Die neue Sensoren-Technik fordert von den Kämpfern härtere Kicks.

Burgstall (PK) Das Foyer ist menschenleer, nur prasselnde Regentropfen, leise Hintergrundmusik. Ganz unaufgeregt nimmt Lukas Ivers Platz, duzt die Bedienung aus Gewohnheit. "Zwischen Training und Wettkampf komme ich gerne hierher", sieht sich der 18-Jährige im Hotel Hallertau um, das ihn auf seinem Weg an die Spitze der deutschen Taekwondo-Kämpfer immer begleitet hat.

Neue Zeitrechnung

Die Erinnerung an seine Erfolge sind hier präsent. "Ewig kann ich davon aber nicht zehren", sagt er. Die Siege auf deutscher und internationaler Ebene, selbst sein fünfter Platz bei den Weltmeisterschaften verblassen so langsam. Eine neue Zeitrechnung hat begonnen. Er muss jetzt bei den Erwachsenen bestehen – und das fällt im ersten Jahr keinem Taekwondoin leicht. In Burgstall hält er sich nur noch am Wochenende auf. "Wenn der Turnierkalender es erlaubt", sagt er. Im Schnitt an jedem zweiten Wochenende. Er genießt die Zeit bei den Eltern. Trotzdem hat er sich für ein anderes Leben entschieden. Mit weiteren Sportlern des Bundeskaders wohnt er im Münchner Haus der Athleten. "Betreutes Wohnen für Nachwuchstalente", beschreibt er sein Domizil, das er aus einem Grund schätzt: "Es eröffnet mir alle Trainingsmöglichkeiten, die ich mir wünschen kann", spielt er auf die Nähe zu seinem Verein Post SV München und die frei benutzbaren Fitnesseinrichtungen an.

Täglich stählt Lukas Ivers seinen Körper, baut Kondition auf, feilt an den Kampftechniken. "Das ist wie eine Sucht", muss er über das Gefühl, das ihn beschleicht, sobald er einen Tag auf der faulen Haut liegt, schmunzeln. "Da fühle ich mich unwohl. Als würde ich von einem Tag auf den nächsten dick werden." Von wegen. Bei einer Körpergröße von 1,87 Metern wiegt er etwa 82 Kilo. "Ich habe Schwankungen von bis zu drei Kilo pro Tag – je nach Intensität des Trainings", weiß er genau, dass es aus der Gewichtsklasse von 80 bis 87 Kilo kein Entrinnen gibt. "Ich müsste hungern, um eine Klasse tiefer starten zu können – und das kommt nicht in Frage", äußert er sich willensstark.

Sein Leben neben dem Sport nimmt Lukas Ivers genauso Ernst wie seine Leidenschaft als Vollkontaktkämpfer. Er besucht den sozialen Zweig der Rainer-Werner-Fassbinder-Fachoberschule in München, absolviert gerade ein Kindergarten-Praktikum. "Neben dem Sport bleibt mir kaum Zeit", fallen ihm kaum weitere Hobbys ein. "Chillen, um Kraft zu schöpfen – und das Internet, das den einzigen Kontakt zu meinen Freunden und zur Außenwelt darstellt", versucht er, die Kumpels von früher nicht aus den Augen zu verlieren. Die Interessen sind oftmals sehr verschieden. "Trotzdem gehe ich gerne weg. Ich trinke halt nur das eine oder andere Bierchen weniger", versucht Lukas Ivers, die Kontrolle zu wahren. "Schlage ich über die Stränge, büße ich das im nächsten Training doppelt."

Wirklich ausgezahlt hat sich die Selbstkontrolle seit dem Wechsel zu den Erwachsenen noch nicht. Beim ersten Schnuppern feierte er noch Erfolge bei niederrangigen Turnieren. "Heuer ist es aber knüppeldick gekommen", versucht er gar nicht, seine Bilanz dieser Saison zu schönen. Bei drei A-Klasse-Turnieren – den Internationalen Meisterschaften von Holland, Deutschland und Belgien – gab es für ihn nichts zu ernten. "Drei Kämpfe, drei Erstrunden-Niederlagen. Der ganze Aufwand für nichts – das ist schon frustrierend", erinnert er sich ungern an den Jahresanfang, als ihm die Folgen eines Splitterbruchs am Kahnbein zu schaffen machten. Zu körperlichen Beschwerden und Trainingsrückstand gesellte sich viel Pech bei den Auslosungen. "Dort starten Olympiasieger und Weltmeister. Alles Kämpfer, die über jahrelange Erfahrung verfügen. Einfache Siege sind Fehlanzeige", beschreibt der Burgstaller die Realität auf der Matte.

Probleme mit Sensoren

Er zögert. Schließlich gibt es da noch eine Erklärung. "Erzähl nur", fordert ihn sein Vater Stefan Ivers auf, von den neuartigen Wertungen zu erzählen. "Es gibt jetzt verschiedene Techniken und Systeme, aber keinen festen Standard", erklärt Lukas Ivers, wieso er sein Training umstellen musste. "Früher kam es auf Berührungen an, die von Ringrichtern erkannt wurden. "Die mit Sensoren behafteten Westen wiegen schwer und fordern deutlich härtere Kicks, damit die Treffer angezeigt werden", sagt er.

Mehrere Wochen brauchte der Erste der bayerischen Rangliste, um sich darauf einzustellen. Für einen der fünf besten Taekwondo-Kämpfer seiner Gewichtsklasse in Deutschland ist das System nach wie vor zweifelhaft. Doch den Konkurrenten ergeht es nicht besser. "Ich habe mich damit abgefunden und komme jetzt besser zurecht", spielt er auf die offenen Meisterschaften von Österreich an, bei denen er zwei Siege landete und erst dem Europameister unterlag. "Das war keine Schande, aber meine Eltern, meine Freunde, meine Förderer vom Hotel Hallertau mussten viel Aufbauarbeit leisten, um mich über die schweren Wochen zu bringen."

Jetzt hofft er, dass die Durststrecke vorüber ist. "Das erste Jahr bei den Erwachsenen ist für alle schwer. Aber ich dachte nicht, dass es so hart ist", richtet er den Blick nach vorne. Die British Open stehen an, die Deutsche U21-Meisterschaft und die U21-Europameisterschaft, die im Oktober in Spanien stattfinden wird und den Höhepunkt des Jahres bildet. "Dort ein Platz unter den ersten Drei und ich wäre mehr als zufrieden", erklärt Lukas Ivers selbstbewusst.

In aller Ruhe wird er sich vorbereiten, ohne große Hektik. Natürlich belastet der finanzielle Aufwand die Familie, zumal Lukas Ivers seinen Lebensunterhalt nie mit dem Taekwondo verdienen wird. Er will nach der Schule Sportmanagement studieren oder Physiotherapeut werden. "Läuft es ausgesprochen gut, ist vielleicht Berufssoldat eine Option – aber bis es soweit ist, habe ich noch einiges zu tun", sagt er, trinkt seine Cola aus und verabschiedet sich. Natürlich nicht nach Hause auf die Couch, sondern in den Hotelkeller, wo er die Fitnessgeräte nutzen darf. Auch dort ist kein Mensch zu sehen, kein Laut zu hören. Das Prasseln hat aufgehört, die Sonne kämpft sich draußen durch die Wolken. "Sieht doch alles schon viel besser aus", sagt sein Vater Stefan Ivers und merkt gar nicht, wie passend er damit auf die Situation seines Sohnes anspielt.