Ingolstadt
„Die Täter sind meist aus unserer Mitte“

Andrea Teichmann von der Beratungsstelle Wirbelwind warnt vor Instrumentalisierung sexueller Gewalt

20.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:45 Uhr
Andrea Teichmann vom Verein Wirbelwind −Foto: Wirbelwind

Frau Teichmann, vorigen Samstag fand eine Mahnwache in Gaimersheim statt: Die Teilnehmer drückten ihre Anteilnahme für die am 1. Juli im Ort vergewaltigte 33-jährige Frau aus und forderten mehr Sicherheit. Was zeigt eine solche Aktion? Andrea Teichmann: Der Presse war schon zuvor zu entnehmen, dass „mehr Sicherheit“ gefordert wird.

Offensichtlich hat der Vorfall das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung erschüttert. Aus Sätzen wie „Was passiert als Nächstes?“ oder „Muss erst noch was Schlimmeres geschehen?“ höre ich, dass nicht nur „für“, sondern ganz deutlich „gegen“ etwas demonstriert wird. Und da sind wir als Fachberatungsstelle bei sexualisierter Gewalt in 25 Jahren Erfahrung sehr wachsam geworden: Die Gefahr, dass das Thema sexualisierte Gewalt und damit auch die Opfer instrumentalisiert werden, um andere, politische Zwecke zu erfüllen, ist groß. Deswegen würde ich hier gerne einige Fakten nennen.

Welche Fakten?

Teichmann: Zum Beispiel, dass täglich in Deutschland 20 Vergewaltigungen angezeigt werden – was ja nur ein Bruchteil der tatsächlich stattgefundenen Vergewaltigungen ist. Vergewaltigungen sind also ein sehr alltägliches Verbrechen.

Trotzdem ist die Bestürzung groß, wenn so ein Fall wie in Gaimersheim bekannt wird. Ganz viele Vergewaltigungen kommen ja nie ans Tageslicht.

Teichmann: Sie sagen da etwas ganz Wichtiges: Das ist jetzt eine Straftat, die publik geworden ist. Tatsächlich werden die meisten Vergewaltigungen nicht öffentlich und unterscheiden sich auch inhaltlich von dem gerade öffentlich diskutierten Vorfall. In der Regel nämlich ist der Vergewaltiger dem Opfer gut oder sehr gut bekannt. Wir haben so das Gefühl, dass die Bestürzung in der Öffentlichkeit dann besonders groß ist und eine klare Positionierung stattfindet, wenn gleichzeitig die Möglichkeit besteht, sich innerlich zu distanzieren. Wenn der Beschuldigte ein Fremder ist und aus einem anderen Kulturkreis kommt, fällt es leichter, sich das vorzustellen. Der Schuldige kommt nicht aus den eigenen Reihen. Die Fakten sind aber andere: Die Täter kommen meistens aus unserer Mitte.

 

Erleben Sie denn in solchen Fällen, in denen der Täter aus der Mitte kommt, nicht die gleiche Bestürzung und Solidarität mit dem Opfer?

Teichmann: Nein, das erleben wir nicht. Sehr oft werden im Gegenteil die Beschuldigungen der Betroffenen von der Gesellschaft in Frage gestellt. Oft wird den Frauen selbst von Angehörigen und Freunden nicht geglaubt oder ihnen sogar eine Mitschuld an dem Geschehen unterstellt. Für viele Frauen ist sexualisierte Gewalt aber Alltag, „Normalität“. Anzeigen wegen Vergewaltigung gibt es rein rechnerisch hier in der Region eine pro Woche. Entsprechend oft gäbe es also Anlass zu Solidaritätsbekundungen. Eine solche Mahnwache, wie sie jetzt in Gaimersheim stattgefunden hat, fänden wir prinzipiell gut, nämlich dann, wenn sie ein Zeichen der Solidarität mit allen Opfern sexualisierter Gewalt wäre.

 

Jetzt gab es aber erneut sexuelle Übergriffe bei einem Stadtfest in Schorndorf durch Asylbewerber. Diese Angst vor fremden Kulturen erscheint doch wohl nicht ganz unbegründet?

Teichmann: Diese Angst ist so alt wie die Menschheit. Ich finde es ganz wichtig, dass man genau hinschaut: Worum geht es tatsächlich? Wo existieren vielleicht wirklich kulturelle Unterschiede, die zu erkennen wichtig ist und die zu bearbeiten sind? Was aber sind schlicht Vorurteile? Die Kriminalitätsstatistik weist meines Wissens seit dem Zuzug der vielen Migranten keine überproportionale Steigerung der Gewaltdelikte auf.

 

Was ist Ihre Schlussfolgerung aus dem, was Sie gerade gesagt haben?

Teichmann: Wir von Wirbelwind würden uns wünschen, dass sehr viel mehr Aufklärung über sexualisierte Gewalt stattfindet. Und viele Präventionsveranstaltungen an Kindergärten und Schulen. Da müsste viel mehr getan werden, um schon junge Menschen davor zu schützen, später Opfer oder Täter zu werden.

 

Bemerken Sie im Alltag der Beratungsstelle, dass inzwischen mehr Flüchtlinge bei uns leben?

Teichmann: Ja, das schlägt sich nieder. Wir haben viele Anfragen von Asylbewerberinnen, die Opfer sexueller Gewalt sind, denen wir leider so nicht nachkommen können aufgrund unserer eingeschränkten Kapazitäten.
 

WIRBELWIND

 
Die zwei Fachkräfte der Beratungsstelle Wirbelwind in Ingolstadt unterstützen pro Jahr in über 200 Fällen direkt von sexueller Gewalt Betroffene sowie Angehörige und Fachleute. Das Angebot reicht von einmaliger Information über Verdachtsabklärung bis zu mittel- und längerfristiger beratender und therapeutischer Begleitung. Seit Kurzem umfasst es auch eine zertifizierte, vom Justizministerium psychosoziale (Straf-)Prozessbegleitung. Zusätzlich versucht Wirbelwind, Präventionsangebote vorzuhalten. Der von Ehrenamtlichen geleitete Verein leistet außerdem Öffentlichkeits- Lobby- und Akquisearbeit, um das Thema sexualisierte Gewalt in die Gesellschaft zu bringen, Hilfsangebote aufzuzeigen und die Finanzierung der Fachberatungsstelle zu sichern.