Ingolstadt
Die Stadt zu seinen Füßen

11.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:34 Uhr

Ingolstadt (DK) Die Sprossen sind schmal und rau, die Farbe ist an vielen Stellen abgewetzt von den Füßen, die sie täglich treten, von den Händen, die sich an ihnen festhalten. Silberner Stahl blitzt unter abgeriebenem Rot hervor. Vom Gerüst gegenüber winkt ein Arbeiter. Er ist jetzt etwa auf gleicher Höhe, 15 Meter vielleicht. Zwischenböden aus Gitterstäben sichern den Aufstieg. Wer fällt, fällt keine 60 Meter tief - und doch, ausprobieren möchte man es nicht. Dem Fotografen rutscht beim Aufstieg sein Bauhelm vom Kopf. Polternd schlägt er am Fuß des Krans auf. Eine Schrecksekunde lang scheint die Baustelle den Atem anzuhalten. Nichts passiert. Gehämmer und Geklapper setzen wieder ein. Aus seinem Häuschen schaut Paulo Vieira herunter und zeigt mit dem Daumen nach oben. Noch 50 Stufen.

190 WOHNEINHEITEN

Es ist einer der beiden höchsten Kräne der Firma Bacher in Ingolstadt, in dem Paulo Vieira arbeitet, verrät Geschäftsführer Martin Bacher. In der Peißerstraße baut die Firma gerade Gebäude mit 190 Wohneinheiten sowie Tiefgaragen im Auftrag der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft Ingolstadt. Etwa bis August wird der Kran noch dort stehen.

Ganz oben ist von den Arbeitsgeräuschen unten nicht mehr viel zu hören. Der Ausleger des Krans ragt in den Himmel hinein, scheint nach der Stadt zu greifen. Eine weitere Leiter führt wieder einige Stufen hinab. Auf einer schmalen Gitterplattform stehen zwei knallgrüne Turnschuhe säuberlich nebeneinander vor einer Türe. Paulo Vieira öffnet. In seinem Kranführerhäuschen trägt der Portugiese Jogginghose und Filzpantoffeln. Ganz wie zu Hause. Der Raum wird fast zur Gänze von einem Ledersessel eingenommen. Der ist gut eingesessen, man sieht es ihm an - und sieht doch nicht hin. Rund um das winzige Häuschen, das da frei in der Luft hängt, breitet sich Ingolstadt aus. Auwaldsee, Donau, Gewerbegebiet. Eine sanfte Handbewegung des Kranfahrers und die Welt um einen herum beginnt sich zu drehen. Das kleine Häuschen in 60 Metern Höhe wird zum Herzstück dieser Bewegung. Auch wer ganz sicher weiß, dass es nur der Ausleger des feuerroten Krans mit dem kleinen Häuschen daran ist, der sich da dreht, und nicht die Stadt um ihn herum, der kann es doch nicht glauben.

DIE ALTSTADT VON OBEN

"Seit drei Jahren bin ich immer oben", erzählt Vieira. Zu seinen Füßen liegt jetzt die Altstadt. Neues Schloss, Münster, St. Moritz. "Ich kenne Ingolstadt gut", sagt Paulo Vieira, "zumindest von hier aus." An der Audi-Akademie und am Sportbad hat der Kranfahrer der Firma Bacher ebenfalls mitgebaut. Seit vier Jahren ist der Portugiese in Deutschland. "Um zu arbeiten und Geld zu verdienen", erklärt der 25-Jährige schlicht. In Portugal sei es schwierig, eine Arbeit zu finden. Außerdem ist er gerne Kranfahrer, wie schon sein Vater 30 Jahre lang vor ihm. Seine Eltern und Geschwister wohnen in Porto, einer Hafenstadt im Westen des Landes. Sobald er Urlaub hat, fährt Vieira nach Hause. Über ihm, im Führerhäuschen des Krans, spannt sich eine grün-rote Portugalflagge und spendet ihm Schatten an sonnigen Tagen. An der Wand hinter ihm vergilben drei leicht bekleidete Mädchen auf ausgeblichenen Postern. "Die waren schon vor mir da." Vieira lacht.

Unten setzen die Arbeiter gerade eine Wand ein. Zwei Männer stützen, einer befestigt. Auf dem Dach nebenan sprühen Funken. Jemand schweißt. Es ist ein emsiges Treiben buntbehelmter Handwerker, auf das Vieira hinabblickt. "Ich schaue ihnen gerne beim Arbeiten zu", sagt der Portugiese mit einem Augenzwinkern. Dann pfeift er laut. Die Arbeiter schauen zu ihm hinauf. "Robert", ruft er mit lauter Stimme durch das geöffnete Fenster seiner Kabine. Das T im Namen spricht er nicht. "Er ist Ungar", verrät der Kranfahrer. Der Angesprochene winkt.

Vieira bringt den Ausleger in Position und lässt den Haken hinabgleiten, der an einem Stahlseil hängt. Robert hakt den Karabiner an einen Anhänger, der versetzt werden muss und macht mit dem Zeigefinger eine Drehbewegung nach oben. "Das ist universal", sagt Vieira zu der Bewegung seines Kollegen und hebt den Anhänger mit einem leichten Druck seiner Hand am rechten der beiden Hebel an seinem Suhl an. Präzise setzt er ihn an der Stelle wieder ab, die Robert ihm deutet. Bei starkem Wind sei der Kran schwerer zu kontrollieren, "aber es geht eigentlich immer, zu arbeiten". 2,8 Tonnen kann der Kran bei ganz ausgefahrenem Ausleger heben, ganz innen sogar bis zu zwölf Tonnen.

Viele der Arbeiter kommen aus Osteuropa, erzählt Geschäftsführer Martin Bacher - aus Polen, Rumänien, Bulgarien. Paulo Vieira aus Portugal sei da fast schon der Exot. Dementsprechend viele Sprachen werden auch auf der Baustelle gesprochen. "Aber solange das technische Verständnis da ist, muss man gar nicht so viel verstehen", sagt Bacher. Die Zusammenarbeit klappt reibungslos. "Außerdem können die Vorarbeiter alle ein bisschen Deutsch."

KEINE ANGST VOR DER HÖHE

Ein junger Mann taucht auf der Plattform des Krans auf, den weißen Helm des Fotografen in der Hand, der beim Aufstieg hinuntergefallen ist. "Ich habe mich gleich freiwillig gemeldet, ihn wieder hochzubringen, weil ich auch noch nie hier oben war", verrät Praktikant Hendrik. Er studiert Bauingenieurswesen und ist sieben Wochen mit auf der Baustelle. "Wenn ich Höhenangst hatte, habe ich sie jetzt auf alle Fälle überwunden", sagt er mit Blick nach unten.

Draußen beginnt es von einer Sekunde auf die andere zu schütten, die Arbeiter flüchten unter die Dächer. Vieira lehnt sich entspannt zurück. Hinter ihm steht eine kleine Mikrowelle. Gleich will er sich sein Mittagessen warm machen. Viel Ansprache hat er nicht in den acht Stunden, die er jeden Tag auf dem Kran verbringt. Doch auf die Frage, ob es ihm manchmal zu abgeschieden sei, in luftiger Höhe, schüttelt er den Kopf. "Música", sagt er und lächelt breit. Neben ihm steht ein winziges Radio für die einsamen Stunden über der Stadt.