Ingolstadt
Die Stadt liest mit

Opposition wirft Presseamt gezielte Überwachung und Archivierung ihrer Kommentare im Internet vor

20.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:02 Uhr

Ingolstadt (DK) Die Stimmung in der Stadtpolitik ist seit Langem explosiv. Jetzt gibt es neuen Zunder: Grüne, SPD, ÖDP und BGI erheben in einem gemeinsamen Brief Vorwürfe gegen die Stadtverwaltung: Das Presseamt würde "gezielt Beiträge von Stadträtinnen und Stadträten in sozialen Medien auswerten, sammeln und archivieren" - das alles aus öffentlichen Mitteln finanziert. Das sei ein höchst fragwürdiges Vorgehen. OB Christian Lösel (CSU) und Presseamtschef Michael Klarner widersprechen energisch.

Es war am 24. April im Stadtentwicklungsausschuss, und die Debatte driftete mal wieder ins Giftige. Es ging um das Körnermagazin. Christian Lange, Fraktionsvorsitzender der BGI, kritisierte, dass dessen Eigentümer Jürgen Kellerhals zwei Wunsch-Stadträte benennen durfte, die in künftige Entscheidungen miteinbezogen werden. Wenn bei einem Baudenkmal von so hoher städtebaulicher Relevanz der Eigentümer derart viel mitbestimmen dürfe, klagte Lange, "stellen wir die Demokratie auf den Kopf!" Volle Attacke.

Der Oberbürgermeister konterte auf ungewöhnliche Weise: "Ich weiß doch, was sie da schon wieder auf Facebook geschrieben haben, Herr Lange!" Darauf las Christian Lösel in der von ihm geleiteten öffentlichen Sitzung einen angriffslustigen Beitrag vor, den der BGI-Chef einen Tag zuvor im Sozialen Netzwerk Facebook veröffentlicht hatte; man nennt das ein Posting.

Es war nicht das erste Mal, dass ein missliebiger Kommentar aus dem Internet in einer Debatte eingesetzt wurde. An diesem Punkt greift die Opposition an: Mitarbeiter des städtischen Presseamts, so ihr Vorwurf, würden "gezielt Beiträge von einzelnen Stadträtinnen und Stadträten in Sozialen Medien auswerten, sammeln und archivieren". Das sei jedoch nicht die Aufgabe einer Stadtverwaltung.

In einem Brief haben sich die Fraktionsvorsitzenden Petra Kleine (Grüne), Achim Werner (SPD), Christian Lange (BGI) sowie Thomas Thöne von der ÖDP am Freitag an den OB gewandt. Sie verlangen Antworten auf zehn konkrete Fragen. Unter anderem wollen sie wissen, wie viele Mitarbeiter des Presseamtes beauftragt sind, Beiträge und Postings in Sozialen Medien auszuwerten und zu archivieren. Die Unterzeichner fragen auch, wem diese Sammlungen zur Verfügung gestellt werden. Die letzte Frage lautet: "Worin liegt das öffentliche Interesse an dieser Beobachtung von Stadtratsmitgliedern und der Auswertung und Speicherung der Daten?" Ein wesentlicher Punkt, findet Petra Kleine. Immerhin werden die Mitarbeiter des Presseamtes aus Steuergeldern bezahlt. "Wenn das ehrenamtliche Helfer der CSU in ihrer Freizeit machen würden, wäre es eventuell was anderes."

Lange erklärte auf Anfrage: "Das Problem ist, dass offensichtlich ein ganzes System der Überwachung geschaffen wurde. Unsere Postings und Kommentare werden genutzt, um uns unter Druck zu setzen und uns zu beschimpfen. Mir wurde 2017 in irgendeiner Sitzung sogar einmal ein Kommentar von mir aus dem Jahr 2013 vorgelesen, um als Beleg für meine angeblichen Unverschämtheiten zu dienen. Vielleicht gibt es irgendwo im Rathaus einen Ordner, in dem meine Aussagen und Mitteilungen der letzten Jahre gesammelt werden, um sie bei passender Gelegenheit gegen mich zu verwenden. Das fände ich allerdings sehr befremdlich. Wäre ich an der Stelle des Oberbürgermeisters, würde ich so ein System verbieten."

Die erste Reaktion Lösels lässt sich sinngemäß so zusammenfassen: alles Unsinn. "Ich brauche niemanden, der mir Postings archiviert. Für irgendwelche Dossiers haben wir gar keine Zeit! Ich habe alles in meinem Handy. Alles, was Stadträte auf Facebook hinterlassen - bis hin zum privaten T-Shirt! - finde ich ganz schnell über die Suchfunktion. " Er demonstriert es während des Telefonats mit dem DK: Nach einer halben Minute hat er drei Postings Langes zum Körnernmagazin vom 24. April 2018 gefunden. "Ich bekomme nichts ausgedruckt! Und wenn wir mal was ausdrucken wollten, wäre es unser gutes Recht, weil es eine öffentliche Quelle ist."

Als Michael Klarner, der Leiter des städtischen Presseamts, am Freitag von den Vorwürfen erfuhr, bewegten sich seine Reaktion zwischen Verwunderung und Verärgerung. "Ja, natürlich verfolgen wir Diskussionen über Themen, die die Stadt Ingolstadt betreffen, in allen Medien, auch im Internet. Das ist die Aufgabe eines Presseamts. Aber wir machen ganz sicher nichts gezielt gegen Stadträte!" Sein Amt müsse Meinungsbeiträge im Internet beobachten, "und das dann wieder in die Stadtverwaltung zurückspiegeln, weil es ja deren Arbeit betrifft. Wir müssen auch falsche Dinge richtig stellen."

Klarner stört der Stil des Angriffs: "Ich verstehe es einfach nicht, wenn Leute auf Facebook ihre Meinung öffentlich kundtun - und sich dann wundern, wenn man sie darauf anspricht."

Thomas Thöne sieht das anders: "Das geht schon längere Zeit so. Ich habe es mehrfach erlebt, dass in Sitzungen und Besprechungen aus Postings zitiert wurde. Die wurden aus Unterlagen gezogen und den Verfassern entgegengehalten. Ich habe es auch schon erlebt, dass in Büros von städtischen Referenten Ausdrucke von Postings auf dem Tisch lagen." Thöne stellt klar: "Wenn ich auf Facebook etwas schreibe, ist das eine Veröffentlichung, die ich der ganzen Welt zu lesen gebe. Deshalb: Erst das Hirn einschalten, dann posten! Wenn aber jemand systematisch meine Texte archiviert, hat das den Anschein der Überwachung. Und wenn städtische Angestellte das tun, halte ich das für sehr bedenklich."

Ähnlich argumentiert Petra Kleine: Freilich könne man ein Posting als "öffentliche Äußerung" interpretieren, doch solche persönlichen Einlassungen zu sammeln und zu archivieren sei dann "schon etwas anderes". Die Stadtrats-Opposition habe sich daher mit Juristen und Datenschützern beraten, die das beschriebene Verhalten "mindestens bedenklich" finden. "Sie haben uns ermutigt, in dieser Sache aktiv zu werden", berichtet Kleine. Außerdem hätten einige Stadträte - bezugnehmend auf ihr Auskunftsrecht nach der Datenschutzgrundverordnung - um Auskunft ersucht, welche Daten die Stadt über sie gesammelt und gespeichert hat.