Ingolstadt
Die Sehnsucht nach dem Wiesntrubel

Spaßbremse Corona verdirbt Ingolstädter Oktoberfestbedienungen gründlich das Geschäft

24.09.2020 | Stand 23.09.2023, 14:21 Uhr
Immer gut drauf, wenn's den Gästen schmeckt: Christine Niedermeier im Einsatz beim Köschinger Bürgerfest 2019. −Foto: privat

Ingolstadt - Wenn Christine Niedermeier richtig ins Erzählen kommt, dann möchte man ihr irgendwann vorschlagen, als ehrenamtlicher Ghostwriter für ihren ersten Wiesn-Roman zu arbeiten.

 

Selbstverständlich ein Tatsachenroman, denn nach vielen Jahren als Bedienung auf den kleinen und großen Volksfesten dieses Landes haben sich so viele erlebte Geschichten angesammelt, die jemand aufschreiben sollte. In dieser Woche wäre die 45-Jährige wieder auf dem größten Volksfest der Welt im Einsatz. "Das Armbrustschützenzelt ist jetzt mein Stammplatz", sagt Niedermeier, wenn, ja, wenn das Oktoberfest im Corona-Jahr nicht abgesagt worden wäre.

Für sie wie für viele ihrer Kolleginnen werden sonst im Frühjahr die Verträge mit den Festwirten abgeschlossen. "Du bist so eine Art Solo-Selbstständiger. " Erfahrene Bedienungen müssten die Hauptfeste der Saison im Voraus planen, damit sich ihre Termine nicht überschneiden. Die Friedrichshofenerin, die derzeit in Pfaffenhofen lebt, kennt den Barthelmarkt genauso wie den Gillamoos und die Ingolstädter Volksfeste. "Ich mach sogar immer ein Fest in der Schweiz, aber das haben sie uns auch abgesagt, für mich ist die Saison gelaufen. " Klar, auf den Festen sei sonst schon gutes Geld zu verdienen, aber "im Winter ist halt dafür gar nix".

Christine Niedermeier ist geschieden, ihr jüngster Sohn wohnt bei ihr, die zwei großen beim Vater. Im nächsten Jahr will die Tochter des BGI-Stadtrates Georg Niedermeier nach Friedrichshofen ins Haus ihrer verstorbenen Oma ziehen. In der Gastronomie habe sie eigentlich nebenbei schon immer gearbeitet, abgesehen von den Kinderpausen. Ob Antoniusschwaige, Hochzeitsgesellschaft am Auwaldsee oder Hotel Alpenrose in Mittenwald - nichts in dieser Branche scheint der tatkräftigen Frau wirklich fremd zu sein. "Im Grunde ist es in der Gastronomie immer das Gleiche: Es geht darum, den Gast so zufriedenzustellen, dass er gern wiederkommt. "

Wie viel Arbeit das Personal im Hintergrund zu erledigen habe, mit welchen Problemen die Kellner zu kämpfen hätten, interessiere die Leute im Gastraum nicht. "Da ist es egal, ob in der Küche der Ketchupbeutel explodiert, Hauptsache der Gast ist zufrieden. "

 

Zuletzt war Christine Niedermeier sechs Jahre lang beim Café Bretzls am Paradeplatz (jetzt Bistrorant) fest unter Vertrag. Doch im Sommer warteten immer die Feste, seit zehn Jahren auch das Oktoberfest. "Über die kleinen Feste lernt man verschiedene Kellner kennen und wird angesprochen, ob man nicht mal mit auf die Wiesn gehen mag. " Dann kam die Premiere im Bräurosl-Zelt.

Da die Bedienungen meist im Zweierteam arbeiten würden - eine das Essen, eine die Getränke -, müsse man sich voll vertrauen können. "Man teilt am Abend auch den Überschuss, wenn die Gäste weg und die Tische sauber sind. " So ein Oktoberfesteinsatz dauert in der Regel 16 Tage "mit Einstuhl- und Ausstuhltag", denn irgendwer muss ja auch die Hunderte von Tischen und Bänken im Zelt ordentlich aufstellen.

"Du lebst dann 16 Tage lang nur in dieser künstlichen Welt", weiß die erfahrene Bedienung. "Ich wohne in dieser Zeit bei meiner Kollegin in München. " Aufstehen, ab ins Bad, Dirndl anziehen, mit dem Radl zur Theresienwiese, einstempeln, Tische putzen, neu ausrichten, Besteck vorbereiten, Warten auf die ersten Gäste, abends um halb elf ist Schankschluss. "Kurz vor Mitternacht ist man meistens zu Hause, man trinkt noch einen Tee, dann will man eigentlich nur noch ins Bett. "

Wer nicht robust genug ist und mit den Eigenheiten volltrunkener Wiesnbesucher klarkommt, hält sowas wahrscheinlich nicht lange durch. Christine Niedermeier wirkt kräftig genug, um sich durchzusetzen. Wenn sie mit vollbeladenem Schlitten, so heißen die Riesentabletts, durch die feiernde Menschenmasse marschiert, kann am Zieltisch schon mal ein Hendl fehlen, weil sich unterwegs zwei Chinesen gratis bedient haben. "Die hab ich aber mit Unterstützung eines Freundes noch abkassiert. "

 

Was die Bedienung gar nicht mag, das sind die "Rockzupfer", die ihr von ihnen am Dirndlrock ziehen oder gar handgreiflich werden. Notfalls hilft dagegen eine Watschn. Eher harmloser Natur, wenn auch keine sonderlich lukrativen Gäste, sind Italiener, die mit dem Gesicht auf dem Hendl eingeschlafen sind. "Die vertragen nix. "

Der Lohn der ganzen Mühe? Zehn Prozent vom Umsatz für die Bedienung. "Aber von den 20000 Euro, die angeblich jede Bedienung am Ende nach Hause bringt, bin ich weit entfernt", versichert Niedermeier. Das könne bestenfalls ein Champagnerkellner beim Käfer verdienen. Und versteuert werden müsse der Lohn natürlich auch.

Im Corona-Jahr sei ja sowieso alles anders. Die Festzeltbedienungen hätten "kein Recht auf gar nix". Sie selbst habe zwar inzwischen einen festen Job in einem Pfaffenhofener Biomarkt gefunden, aber von etlichen anderen Kolleginnen hat Niedermeier nichts Gutes zu berichten. "Manche sind als Erntehelfer eingesprungen, nur damit sie irgendwas haben. Viele Existenzen sind in die Grundsicherung gefallen. " Von der Politik hätten die Bedienungen nicht die geringste Unterstützung in der Krise bekommen, die Enttäuschung sei groß. "Wir sind ihnen nur gut genug für die schönen Fotos bei den Freibierveranstaltungen. "

DK

 

Reimund Herbst