Ingolstadt
"Die Menschen haben ein Recht auf Kultur"

15.11.2020 | Stand 02.12.2020, 10:08 Uhr
Alarmstufe rot! Den ganzen November über strahlen viele Theater abends ihre Fassaden rot an - als Protest gegen den Lockdown im Kulturbereich. Schließlich ist Theater Teil der kulturellen Bildung, meinen Ingolstadts Intendant Knut Weber (unten, Mitte), Julia Mayr, Leiterin des Jungen Theaters Ingolstadt (rechts), und Bernadette Wildegger von der Theatervermittlung. −Foto: Hauser, Weinretter

Ingolstadt - Trotz umfangreicher Hygienekonzepte sind auch die Theater vom bundesweiten Teil-Lockdown betroffen. Dabei sind kulturelle Einrichtungen mehr als bloße Freizeiteinrichtungen. Für Ingolstadts Intendant Knut Weber sind sie Teil des Bildungssystems.

"Ohne Kunst wird es still" plakatiert das Stadttheater Ingolstadt derzeit. Und will damit "ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ein großer Teil unseres Lebens wegbricht, wenn Kultur nicht stattfinden kann", erläutert Intendant Knut Weber. "Wenn man abends über den Platz geht, leuchtet das Theater rot. Alarmstufe rot! Aber Haus und Platz sind leer. Man merkt plötzlich, dass etwas fehlt, was zuvor selbstverständlich war." Bundesweit wurde im November der "Lockdown light" verordnet. Aber er trifft die Kultur mit voller Wucht. Dass das Theater dabei mit gleichem Maß wie die Unterhaltungs- und Freitzeitindustrie gemessen wird, ärgert Knut Weber besonders. Schließlich ist das Theater Teil der kulturellen Bildung. Was die derzeitige Situation bedeutet, warum das Haus trotz des Stillstands auf Hochtouren arbeitet und welche Pläne es für die nächsten Monate gibt, berichten Knut Weber, Julia Mayr vom Jungen Theater Ingolstadt und Bernadette Wildegger von der Theatervermittlung im Interview.

Herr Weber, der aktuelle Lockdown hat wieder mal den Kulturbetrieb zum Stillstand gezwungen. Wie finden Sie es, dass das Theater in einer Reihe steht mit Schwimmbädern und Fitnessstudios?
Knut Weber: Ich finde das gedankenlos von der Politik. Selbstverständlich gehen die Menschen in ihrer Freizeit ins Theater - wann denn sonst! Aber Theater auf den Freizeitaspekt zu reduzieren, ist einfach zu kurz gegriffen. Theater und kulturelle Bildung sind untrennbar miteinander verbunden. Das Theater ist als sinnstiftende Institution ein Ort, an dem die Gesellschaft über ihren eigenen Befund und Zustand diskutiert - und somit unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens. Darüber hinaus ist die Entscheidung zur Schließung ein Schlag ins Gesicht für alle Theater, die sehr gewissenhaft mit den örtlichen Gesundheitsämtern ausgefuchste Hygienekonzepte erarbeitet haben. Wenn Theater schließen müssen, aber gleichzeitig überfüllte Busse fahren, bleibt das für mich unverständlich.

Julia Mayr: Junges Theater ist Teil der Bildung, viele Kinder und Jugendliche kommen deshalb mit der Schule in unsere Vorstellungen. Zu "normalen" Zeiten sind das 280 Vorstellungen pro Saison - nur für Schulen und Kindergärten. Da sind die frei verkauften Vorstellungen an den Wochenenden noch nicht mitgerechnet. Wenn die Schulen geöffnet sind, sollte das für das Theater auch gelten.

Wie steht es denn mit der Nachfrage zu Corona-Zeiten?
Mayr: Die Nachfrage ist ungebremst. In die Werkstatt durfte vor dem Lockdown immer nur eine Klasse pro Vorstellung. Das hat den Vorteil, dass die Schüler im Klassenverband bleiben können - und nicht mit anderen gemischt werden. Sie fühlen sich dadurch sicherer. Viele Ingolstädter Schulen kommen dann auch zu Fuß und benutzen nicht den öffentlichen Nahverkehr. Das könnte ein Problem für Schulen von außerhalb sein. Man merkt, dass die heuer beim Märchen zögerlich sind.

Sie haben es angesprochen: Theater ist auch ein Ort der öffentlichen Diskussion. Fühlen Sie sich mundtot gemacht?
Weber: Zweifellos. Deshalb denken wir gerade über Möglichkeiten nach, wie wir diesen Diskurs digital aufrechterhalten können. Wir nutzen die Zeit des Stillstands zur Vorbereitung verschiedener Projekte - auch des Futurologischen Kongresses. Wir wollen möglichst zeitnah mit Politikern, Wissenschaftler, Kulturschaffenden digitale Plattformen aufbauen. Trotzdem fehlt das Analoge. Das bekommen wir auch täglich vom Publikum gespiegelt.

 

Was lerne ich im Theater oder durch Theater? 
Weber: Abgesehen von kultureller Bildung lernt man soziales Verhalten. Diskursfähigkeit. Man lernt, sich Gedanken zu machen, sich auszutauschen mit anderen Menschen. Und das ist etwas, was weit über ein Bildungsangebot in Schulen hinausgeht. Das Theater vermittelt Kompetenzen, die notwendig für die Entwicklung einer Gesellschaft mit ihren vielfältigen Problemen sind. Hier zu streichen, ist kurzsichtig!
Mayr: Man denkt im Theater über die Welt nach - es bietet Raum für Auseinandersetzung, auch mit der aktuellen Situation und ihren Folgen. Darüber hinaus werden dort noch andere relevante Themen verhandelt, die gerade wegen Corona hinten runterfallen.

Bernadette Wildegger: Greifen wir nur mal den Punkt Migration auf. Gerade um die verschiedenen Kulturen zusammenzubringen, braucht es einen Ort wie das Theater - um Themen aufzugreifen, eine gemeinsame Basis zu schaffen. Das eigene Erleben und Sich-ausprobieren durch theaterpädagogische Arbeit hat einen großen Einfluss darauf, wie ich andere sehe, auf andere zugehe, wie sich mein Horizont weitet. Dazu gibt es von der Theatervermittlung ein vielfältiges Angebot - das derzeit nicht genutzt werden kann. Dabei merke ich bei jungen Menschen, wie groß das Bedürfnis ist, darüber zu sprechen, was gerade passiert. Dafür muss man einen Raum schaffen. Aber das ist kein Luxus, das ist eine Notwendigkeit.

Seit es mit dem Jungen Theater eine eigene Sparte in Ingolstadt gibt, wurde das Angebot immer weiter ausgebaut - und sehr präzise auf bestimmte Altersschichten zugeschnitten. Nicht nur für Zweijährige, sondern sogar für Babys gab es Extra-Produktionen. Was bringt die Begegnung mit Theater in so einem Alter?
Mayr: Theater kann besondere Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume eröffnen, in denen schon ganz kleine Kinder ihrer Aneignung von Welt selbsttätig nachgehen können. Sie machen im Theater eine Erfahrung, die über das Alltägliche hinausgeht. So ist Theater eine Schule des Sehens - von Anfang an. Schon die Allerkleinsten lernen hier zu entschlüsseln und hinterfragen. Wenn ein Kind im Theater laut fragt: "Was macht die Frau da?", versucht es, das Gesehene auf der Bühne zu decodieren und zu interpretieren. Es gibt in Ingolstadt viele Familien - aber leider immer noch zu wenig kulturelle Angebote.
Weber: Unser Konzept sieht vor, dass wir Kinder mit unserer Arbeit begleiten - vom Anfang bis zum Schulabschluss. Wer über diesen langen Zeitraum an kulturellen Prozessen teilgenommen hat, hat am Ende ein anderes Urteilsvermögen als ohne diesen Weg.

 

Auch die Theatervermittlung ist in den vergangenen Jahren immer weiter gewachsen.
Wildegger: Grundsätzlich begleiten wir alle Inszenierungen. Die größte Nachfrage kommt dabei von den Schulen. Wir bieten Workshops und Probenbesuche an, schaffen Raum, mit den Regieteams ins Gespräch zu kommen. Weil es für viele Schüler meist immer noch die erste Erfahrung mit Theater ist, geht es oft um Grundsätzliches: Wie funktioniert Theater? Darüber hinaus machen wir aber auch Angebote abseits der Inszenierungen. Wir versuchen, in den öffentlichen Raum hineinzugehen - etwa mit dem "Cafe International", den Bildungsangeboten während des Jungen Futurologischen Kongresses oder den Spielclubs, die derzeit leider nicht stattfinden.
Weber: Ich glaube, dass die partizipativen Formate immer wichtiger werden. Das ist ja auch das Konzept für die Kammerspiele: ein Bürgertheater. Neben einer neuen Spielstätte soll es dort eine Probebühne geben, die generationsübergreifend für alle möglichen kreativen Gruppen und Formate zur Verfügung stehen soll.

Selbst im Lockdown könnten Schulen Theater erleben - mit mobilen Produktionen. Das Anhaltische Theater in Dessau hat gerade einen neuen "Theater-Lieferdienst" entwickelt. Lehrkräfte oder andere Verantwortliche könnten per Anruf eines von vier verschiedenen Stücken an ihre Schule bestellen. Wäre das auch ein Modell für Sie?
Mayr: Wir dürfen nicht spielen. Bei der mobilen Produktion verhielt es sich schon vor dem Lockdown so, dass einige Kindergärten lieber zu uns ins Theater kommen wollten, mit der Begründung, dass keine "externe Person" den Kindergarten betreten dürfe. Dies gilt auch für Schulen. Dort dürfen ja nicht mal die Eltern rein. Wenn das Theater noch länger geschlossen bleiben muss, sollte unbedingt geprüft werden, was sonst möglich ist.

Was kann das Theater denn derzeit überhaupt machen? 
Weber: Wir proben alle Produktionen premierenreif - und hoffen auf einen baldigen Neustart. Sobald das Theater hochgefahren werden kann, sind wir spielbereit. Auch die nächsten Produktionen - etwa "Die Nashörner" unter der Regie von Claus Peymann - gehen in den Probenprozess. Weil es laufend Veränderungen gibt, müssen wir den Rest der aktuellen Spielzeit neu planen. Darüber hinaus reden wir über die Spielzeiten 2021/22 und 2022/23 und den nächsten Futurologischen Kongress. Und: Wir denken derzeit auch intensiv darüber nach, mit welchen kleineren Formaten wir in andere Institutionen gehen können. Wir müssen das noch mehr verstärken, was ohnehin zu unserem Selbstverständnis gehört: Den Kunsttempel verlassen und reingehen in die Stadt. Wenn Schauspieler jetzt Freiräume haben, spricht nichts dagegen, dass sie im öffentlichen Raum, in Volkshochschulen, Altersheimen oder wo auch immer auftreten, sobald das möglich ist. Wir wollen unsere gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellen. Wir können uns nicht nur zurücklehnen und abwarten.

Gibt es denn schon konkrete Projekte?
Mayr: Im Sommer hatten wir eine Panther-Jagd rund um den Luitpoldpark für Familien inszeniert. Jetzt suchen wir eine Geschichte für einen theatralen Winterspaziergang. Außerdem planen wir unseren traditionellen Adventskalender: Wir machen ein analoges und digitales Konzept - je nachdem, was im Dezember erlaubt ist. Gerade in der Adventszeit wollen wir nicht stumm bleiben. Wir wollen Anregungen zum Selbermachen geben, Vorlesegeschichten, kleine Hörspiele präsentieren. Wenn das Theater aufmachen darf, wird der Adventskalender analog stattfinden, in diesem Jahr im Kleinen Haus, um die Abstandsregeln besser einhalten zu können.

Wildegger: Einige unserer Angebote setzen wir digital um, solange wir nicht präsent sein können. Die Theaterlabors sind beispielsweise auch über den Bildschirm möglich und richten sich an alle, die sich mit unterschiedlichen Disziplinen am Theater auseinandersetzen möchten.
Weber: Auch der Abendspielplan steckt mitten in den Planungen. Unsere Oberspielleiterin Mareike Mikat arbeitet an kleinen Formaten, mit denen das Theater gerade in der Adventszeit Präsenz zeigen kann. Beispielsweise wird das Showzimmer in der Sparkasse weitergehen.

Der Lockdown betrifft alle kulturellen Einrichtungen - mit Ausnahme der Bibliotheken. Gibt es denn einen Zusammenschluss von Theater, Museen, Konzertveranstaltern, um mit einer Stimme zu sprechen?

Weber: Die Theater schließen sich bundesweit zusammen, weil man erkannt hat, dass der Föderalismus für die Durchsetzung der Interessen von Kunst und Kultur nicht immer förderlich ist. Deswegen gibt es einen nationalen Schulterschluss. Auf der lokalen Ebene sind wir im Begriff, einen regionalen Kulturrat aufbauen, in dem alle Player dieser Stadt gemeinsam ihre Interessen vertreten. Das ist wichtig.

Wie lauten denn Ihre Forderungen? 
Weber: Zunächst suchen alle bayerischen Theater das Gespräch mit dem Ministerpräsidenten und dem für die Kultur zuständigen Staatsminister. Wir alle haben Verständnis für rigorose Maßnahmen. Aber wir fordern einen differenzierten Blick. Die Situation der einzelnen Häuser ist unterschiedlich, und so muss das auch analysiert werden. Wir fordern eine zeitnahe Öffnung der Theater, natürlich unter Auflagen. Unser Konzept liegt vor, und es ist tragfähig. Die Menschen haben ein Recht auf Kultur. Unser Kulturstaat, um den uns so viele beneiden, darf nicht den Bach runter gehen. Und für die Zukunft wünsche ich mir, dass mehr Politiker und Entscheidungsträger ins Theater gehen, damit sie besser verstehen, wo unsere Nöte, aber auch unsere Kraft liegt.
Mayr: Meine Forderung ist klar: Dass man Kindern und Jugendlichen das Recht gewähren muss, Zugang zu Kunst und Kultur zu erhalten. Gerade in Krisenzeiten ist Teilhabe wichtig.

DK

Die Fragen stellte Anja Witzke.