Ingolstadt/München
Die Macht des Wortes

25.04.2022 | Stand 23.09.2023, 0:53 Uhr
Monströser Gnom: Anna Katharina Fleck agiert virtuos als Oskar Matzerath. −Foto: Kaip

Das Theater Plan B erzählt "Die Blechtrommel" in kompakten 70 Minuten.

Wie machen die das nur? Sie sind zu zweit auf dieser winzigen Bühne und fächern doch das ganze fulminante Blechtrommel-Universum auf - von Anna Bronskis vier Röcken, unter denen sie den Brandstifter Joseph Koljaiczek 1899 mitten auf dem kaschubischen Kartoffelacker versteckt, bis zu Alfred Matzeraths Kolonialwarenladen, von Oskars Weigerung zu wachsen und seiner Trommelleidenschaft bis zu dem Fischer, der mit einem Pferdekopf als Köder Aale fängt. Von Agnes' Tod und der Brausepulver-Liebesbeziehung zu Maria, vom Erstarken der Nationalsozialisten und Meister Bebras Kuriositätenkabinett, vom Ende des Krieges und Oskars Aufenthalt in der geschlossenen Pflegeanstalt.

Damit - in der Rückschau - beginnt der Roman von überbordender Fabulierlust, der Günter Grass im Herbst 1959 von einem Tag auf den anderen in die Riege der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts katapultierte. Und so beginnt auch Andreas Wiedermanns wundersame Inszenierung der "Blechtrommel", die sein Theater Plan B nach coronabedingter Verschiebung am Wochenende im Ingolstädter Altstadttheater zeigte. Aus dem 800-Seiten-Roman hat er ein theatrales 70-Minuten-Konzentrat destilliert (Fassung: Oliver Reese) und lässt das kleinwüchsige, glaszersingende Monstrum mit Witz und Raffinesse durch die deutsche Geschichte taumeln, indem er Privatgeschichte mit Zeitgeschichte verknüpft.

Anna Katharina Fleck schlüpft in die Rolle von Oskar Matzerath. Graue Strickmütze, Kniestrümpfe, kurze Hose (Ausstattung: Aylin Kaip) - so bleibt sie von Anfang bis Ende, ein ewiges Kind im Körper eines Erwachsenen. Aber eins, das schaut und denkt und plant. Boshaft und tabulos. Und stets unterschätzt wird. Grandios agiert Anna Katharina Fleck, bleibt als Oskar undurchschaubar. Denn wenn er auch nach außen den Eindruck vermittelt, in seiner eigenen, verschrobenen Welt gefangen zu sein, so spricht diese kindliche, innere Stimme doch mit bestürzender Grausamkeit und Infamie. Rasant und virtuos wechselt Anna Katharina Fleck die Rollen. Ist Agnes und Jan und Maria und der jüdische Spielwarenhändler. Täter und Opfer. Außenseiter und Strippenzieher. In Ekstase. Im Trommelwahn. Im Todeskampf. Was für ein Spiel!

An ihrer Seite: Clemens Nicol, der zum einen - ganz in Weiß - als Pfleger in der Heilanstalt auftritt, den Patienten Oskar Matzerath im Rollstuhl schiebt, ihn füttert, ihn schließlich in der Zwangsjacke fixiert. Zum anderen eine Vielzahl von Stimmen, sogar ganze Dialoge übernimmt. Und zum dritten mit Schlagzeug, Glockenspiel und Loopstation die komplette Soundmaschinerie in Gang setzt, die das Bühnengeschehen um eine so komplexe wie ausgefeilte Hörspielebene erweitert. Clemens Nicol erschafft Räume nur aus Tönen. Meeresrauschen und Möwengeschrei. Kirchenchor und Militärparaden. Liebesgestöhn und Kindergeburtstag. Der Flügelschlag eines Schmetterlings. Darüber hinaus trommelt er wie kein zweiter.

Federleicht und blitzgescheit führt Regisseur Andreas Wiedermann das alles zusammen, setzt auf Reduktion, Körperarbeit und die Kraft des Wortes, verwebt die kleine mit der großen Welt und trommelt laut für ein großartiges Stück Weltliteratur.

DK


Das Theater Plan B zeigt "Die Blechtrommel" von 7. bis 10. Dezember 2022 im Teamtheater in München. Kartentelefon (089) 260 66 36.

Anja Witzke