Die Lust am Kunstskandal

11.04.2019 | Stand 02.12.2020, 14:13 Uhr
Édouard Manets Gemälde "Olympia" verursachte den größten Kunstskandal des 19. Jahrhunderts - heute lässt sich die Wut über die neuartige Malweise kaum mehr nachvollziehen. So ist es mit vielen Skandalen der Vergangenheit. Der Vatikan verlangte etwa, dass bei Michelangelos "Jüngstem Gericht" die Geschlechtsteile übermalt werden. Das Loos-Haus in Wien markiert die Abkehr vom reich verzierten Historismus. Noch vor Fertigstellung des Baus kam es zum Skandal. −Foto: Onari/Wikipedia/dpa

Ohne Skandale wäre der Kulturbetrieb fade. Aber wie weit dürfen Künstler gehen? Und was sagen Tabuzonen über die Gesellschaft aus? Am 17. April soll darüber in einer Podiumsdiskussion gesprochen werden - inmitten der provokativen Kunst Hermann Nitschs.

Das Publikum war empört. Im Pariser Salon kam es 1865 vor Édouard Manets Gemälde "Olympia" zu Menschenansammlungen, die das Bild verspotteten, belachten und mit Spazierstöcken und Schirmen bedrohten. Die Ausstellungsmacher hatten keine andere Wahl: Sie hängten das Gemälde höher, um es vor Gewaltanwendungen zu schützen. Auch in den Medien rumorte es heftig, Manet wurde niedergemacht als völlig unfähiger Maler, der "mit nahezu infantiler Unkenntnis der Grundelemente des Zeichnens" vorginge und einen "Hang zu unglaublicher Gemeinheit" aufwiese. Der Stein des Anstoßes: Manet hatte eine Hure in der Pose von Tizians "Venus von Urbino" sehr selbstbewusst lächelnd dargestellt. Damals fast eine Beleidigung - und das in einer Stadt, in der nicht weniger als 30 000 Prostituierte arbeiteten.

Manets "Olympia" löste den vielleicht größten Kunstskandal des 19. Jahrhunderts aus. Die damalige Pariser Gesellschaft im Zeitalter Napoleons III. allerdings ließ sich von Skandalen noch nicht so berauschen wie spätere Epochen. Manet war stigmatisiert, sein Bild konnte er lange Zeit nicht verkaufen.

Die Zeiten haben sich geändert. Seit dem 20. Jahrhundert sind Skandale fast schon eine Auszeichnung für Künstler, das Salz im sonst allzu faden Kulturbetrieb. Sammler reißen sich um Skandalkunst. Denn die Geschichte hat erwiesen: Der Skandal ist für Maler wie Bildhauer, Komponisten wie Dichter, Theaterregisseure wie Modemacher fast schon ein Qualitätssiegel. Gerade das 20. Jahrhundert pflegte den Kunstskandal wie kein Zeitalter zuvor. Künstler legten es reihenweise darauf an, die Öffentlichkeit zu provozieren. Sie definierten sich geradezu über den Skandal. Und die Öffentlichkeit: Sie stumpft allmählich ab. Es ist inzwischen keineswegs mehr so leicht, die Volksseele zum Kochen zu bringen. Aber es gelingt immer noch. Zuletzt veröffentlichte die Gruppe Rammstein in einem Video einen provokanten Parforceritt durch die deutsche Geschichte, mit blutigen Anspielungen auf den Holocaust in Nazi-Deutschland. In den sozialen Netzwerken schmähten Tausende das Video.

Seit Jahrhunderten bereits kommt es immer wieder zu Provokationen. Bereits Michelangelo erregte Entsetzen mit dem "Jüngsten Gericht". Die vielen nackten Geschlechtsteile mussten nach dem Willen der Kirche übermalt werden.

Keine Frage: Die lustvollen Tabubrüche machen nicht nur berüchtigt, sondern auch berühmt; aber ein echtes Merkmal für künstlerisches Niveau sind sie natürlich nicht. Die öffentliche Entrüstung sagt eher viel aus über den Zustand einer Gesellschaft, ihre Werte und Vorurteile, ihre Toleranz und Offenheit. Dennoch fällt auf, dass viele sehr originelle Kunstwerke auch Skandale provozierten und schließlich als bahnbrechende Meisterwerke gelten.

Offenbar sehen es Künstler immer wieder als ihre Aufgabe an, die Randzonen des vermeintlich moralisch und politisch Vertretbaren abzuklopfen, Vorurteile und Ungerechtigkeiten zu entlarven. Der Künstler wirkt als eine Art Minenhund im Gelände der moralisch-ästhetischen Werteordnung. Er wagt sich in ungesicherte Grenzgebiete vor und wundert sich keineswegs, wenn Sprengladungen der öffentlichen Entrüstung hochgehen. Kunst, das wissen wir spätestens seit dem vergangenen Jahrhundert, kann eben auch weh tun. Der schmerzhafte Prozess ist nicht selten heilsam. In den meisten Fällen verlaufen Skandale so, dass sie das öffentliche Bewusstsein verändern. Bereits wenige Jahre nach dem Ereignis, spricht kaum noch jemand darüber, nicht selten werden nun die zuvor so fragwürdigen Kunstwerke gerühmt, zu Klassikern erklärt. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich unversehens geändert, das provokative Potenzial der Werke kann nach ein paar Jahrzehnten kaum noch jemand erkennen. Niemand würde sich heute an Manets "Olympia" stören. Im Gegenteil: Es ist Kunstfreunden inzwischen schwer begreiflich zu machen, was an der nackten Schönheit Anstoß erregen sollte. Skandale verändern eben das gesellschaftliche Wertegefüge.

Ärger machen keineswegs nur ästhetische Angriffe auf den vermeintlichen guten Geschmack. Künstler wüten gegen fast alles, was die Bestandteile unseres Weltbildes wie Kitt zusammenhält. Letztlich entzünden sich alle Kulturskandale an vier neuralgischen Punkten: Nacktheit, Religion, Moral und Ästhetik. Für alle Tabuzonen gibt es viele Beispiele. Erwähnt wurde schon Michelangelos "Jüngstes Gericht". Volkszorn erregten auch Filme wie Ingmar Bergmanns "Das Schweigen" (1963) mit einer Masturbationsszene. Einer der wichtigesten Skandalromane der vergangenen Jahre war Charlotte Roches "Feuchtgebiete" - und zugleich der erfolgreichste Roman des Jahres 2008. Und das, obwohl es von abstoßenden Beschreibungen in dem Buch nur so wimmelt: Roche schreibt lustvoll über Körpersäfte, Urin, Sperma, Eiter.

Strawinskys "Le sacre du printemps" führte 1913 zu einer Saalschlacht, die Musik wurde als Angriff auf den vermeintlichen guten Geschmack empfunden. Nach den Erfahrungen mit Arnold Schönbergs Zwölftonmusik kann uns so etwas nicht mehr schrecken.

Viele Skandale ranken sich bis heute um Fragen der Religion. Besonders in islamischen Ländern sind die Toleranzgrenzen in manchen Kreisen sehr eng gesteckt. Salman Rushdie, der Autor der "Satanischen Verse", wurde vom Iran mit einem Kopfgeld bedroht. 2015 kam es in Paris zu einem islamistisch motivierten Terroranschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo", zwölf Menschen wurde dabei erschossen.

Beispiele gibt es auch für christlichen Protest. Als der New Yorker Künstler Andres Serrano 1987 ein Kruzifix in seinen eigenen Urin legte, abfotografierte, das Bild dann in Acryl ausmalte und ausstellte, war für viele Christen eine Grenze überschritten. 2011 wurde das Werk "Piss Christ", das der Künstler keineswegs als Blasphemie verstanden wissen will, in Avignon von Katholiken mit einem Hammer demoliert. An vielen Orten gab es zudem Protestmärsche. Zuletzt allerdings ist der Ärger auch über dieses Werk merklich abgeflaut.

Ist das ein Trend? Werden Menschen immer unempfindlicher gegen provokationssüchtige Künstler? Heißt das im Umkehrschluss, dass wir einem gesellschaftlichen Zustand des Anything goes entgegen gehen? Einem bedenklichen Libertinismus, völliger ästhetischer und moralischer Orientierungslosigkeit? Genau betrachtet gibt es auch gegenläufige Entwicklungen, etwa was das Thema Pädophilie betrifft. Vor Jahren pflegte man eine fahrlässige Offenheit gegenüber vermeintlicher kindlicher Sexualität. Die sexualisierten Gemälde junger Mädchen des Malers Balthus (1908-2001) wirken so aus heutiger Sicht zumindest irritierend. Es verblüfft nicht, dass einige Museen inzwischen Ausstellungen absagen oder zumindest besonders fragwürdige Werke nicht präsentieren wollen. Auch Bilder unbekleideter Mädchen von Robert Mapplethorpe würde man heute vielleicht nicht mehr zeigen.

Nirgends sonst werden unsere Wertvorstellungen so intensiv auf die Probe gestellt wie bei provokativen Kunstwerken. Die Gesellschaft muss sich dazu positionieren, sie muss Argumente finden für die Grenzen des Tolerablen. So sind Kunstskandale eine Schule der ästhetisch-moralischen Orientierung: ein Prüfstein dafür, wie wir zusammenleben wollen.

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Podiumsdiskussion Kunst und Skandal

Zur Hermann-Nitsch-Ausstellung in Ingolstadt wird es eine Podiumsdiskussion mit dem Thema „Kunst und Skandal“ geben. Die Gesprächsrunde wird am 17. April, 19.30 Uhr, im Alf-Lechner-Museum stattfinden. Der Eintritt ist frei, Veranstalter sind der DONAUKURIER und die Alf-Lechner-Stiftung. In der Diskussionsrunde soll über Skandale der vergangenen Jahre diskutiert werden, etwa das Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf Erdogan oder die vermeintlich antisemitschen Songs von Farid Bang und Kollegah. Auch Ereignisse, die in Ingolstadt zu heftigen Disputen geführt haben, sollen zur Sprache kommen. Etwa die Entscheidung des Ingolstädter Münsterpfarrers im vergangenen Jahr, das Werk „Salamu“ von Robert Maximilian Helmschrott nach einem CSU-kritischen Interview im DONAURURIER kurzfristig abzusetzen. Es geht vor allem darum, was Kunst und Kultur darf, wo es Grenzen der Moral, der Religion und des guten Geschmacks gibt.

Auf dem Podium werden Dr. Judith Werner, Philosophin und stellvertretende Intendantin des Stadttheaters Ingolstadt, Prof. Robert Maximilian Helmschrott, Komponist und ehemaliger Präsident der Musikhochschule München, sowie Steffen Kopetzky, Schriftsteller und Leiter des Neuen Pfaffenhofener Kunstvereins, sitzen. Außerdem wird der gebürtige Ingolstädter Prof. Dr. Ludwig Mödl, Experte für christliche Kunst und ehemaliger Regens des Eichstätter Priesterseminars, dabei sein. Die Moderation übernimmt Jesko Schulze-Reimpell, Leiter der Kulturredaktion unserer Zeitung.

Die Hermann-Nitsch-Schau im Lechner-Museum läuft bis 23. Juni (geöffnet Do bis So, 10 bis 17 Uhr). Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen. Die Veranstalter weisen darauf hin, dass der Besuch des Obergeschosses des Museums für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten gestattet ist.DK