Augsburg
Die kalte Bibel

Das Augsburger Publikum wird in der Barfüßerkirche Zeuge einer denkwürdigen Brecht-Uraufführung

10.02.2013 | Stand 03.12.2020, 0:31 Uhr

Ringen um das richtige Verständnis der Bibel: Sebastian Kreutz, Amelie Bauer und Friedrich Schilha (v.l.) in der Uraufführung des Stückes „Die Bibel“ während des Brecht-Festivals in Augsburg - Foto: Diana Deniz

Augsburg (DK) Soll sich, muss sich, darf sich das Mädchen opfern, um die Familie und die ganze Stadt vor dem Untergang zu bewahren? Muss die junge Protestantin ihre Seele geben, um katholisch zu werden und dem feindlichen Feldherren ihre Jungfräulichkeit zu opfern, weil er verspricht, dann von der Belagerung abzusehen? Diese Frage verhandelte der erst 15 Jahre alte Bertolt Brecht in seinem ersten dramatischen Versuch.

Jener einst in der Schülerzeitung erschienene Einakter unter dem Titel „Die Bibel“ wurde am Freitag im Rahmen des Brecht-Festivals in Augsburg uraufgeführt.

Den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft zeigt Brecht am Beispiel des größten denkbaren Dogmas, dem der Kirche, an dem der bibeltreue Großvater das junge Mädchen zerschellen lässt. Sie sucht Rat und Hilfe, doch er kennt in seiner Verblendung nur den Gott des bedingungslosen Gehorsams.

„Deine Bibel ist kalt“, entfährt es dem Mädchen mehrfach, und in der Tat ist die Bibel des Großvaters mindestens so kalt wie der Innenraum der Barfüßerkirche, deren Verantwortliche sich zum Glück auf das Brecht-Experiment eingelassen haben. Die 250 Besucher wurden (anders als dutzende, die keinen Platz mehr fanden) Zeuge eines Abends, dem wahrhaft ein erhabener Moment innewohnte. In jener Barfüßerkirche nämlich ist Bertolt Brecht getauft worden und in ihr erhielt er auch seinen Konfirmationsunterricht, der ein wesentlicher Auslöser für das kritische Glaubensstück gewesen sein dürfte.

Fast exakt 100 Jahre ist es her, dass der Teenager im festen Willen, Schriftsteller zu werden, jene sieben Seiten dramatischen Textes verfasste, nicht ahnend, dass er – vielleicht wenig geliebt und viel angefeindet – einer der am meisten beachteten Schriftsteller seines Landes werden würde. Wie hätte er ahnen können, dass nach diesen 100 Jahren sein Schülerstück in dieser Kirche vor einem so großen Publikum zum ersten Mal aufgeführt werden würde? Vor allem: Wie hätte er sich je ausmalen sollen, dass seine eigene Enkelin dabei Regie führen würde? Diese besonderen Umstände ließen in der stimmungsvoll-schlichten Kirche das Gefühl entstehen, dem ungewöhnlichen Moment der Dichterwerdung des jungen Brecht beizuwohnen.

Weit weniger erhaben ist das Werk selbst. Es sei der bemerkenswerte Erstversuch eines Schülers, wie Jürgen Hillesheim in seinem Einführungsvortrag darlegte – nicht weniger, aber auch nicht mehr. „Es ist das Werk eines Jugendlichen, der versucht, sich das Handwerkszeug eines Dichters anzueignen für den Schriftsteller, der er werden wollte.“

Regisseurin Johanna Schall hat mit wenigen Mitteln und noch weniger bespielbarem Platz den Text ins Zentrum der kurzen Episode gestellt. Die aus den Theatern Augsburg und Ingolstadt rekrutierten Schauspieler (Amelie Bauer, Friedrich Schilha, Matthias Klösel und Sebastian Kreutz) hauchten dem stark theorielastigen Text Nuancen und Leben ein, wobei sich Johanna Schall letztlich doch dafür entschied, der „Bibel“ das Endgültige und Pathetische zu nehmen. Der Schluss, an dem das Mädchen in den Tod geht, verpufft in einem raschen Szenenwechsel.

Das Ensemble trug an dieser Stelle nahtlos, aber leider nicht bruchlos die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Geschichte „Die zwei Söhne“ vor, in der eine Mutter unter völlig anderen Vorzeichen ihren Sohn opfert, um ihn zu beschützen. Danach sangen die Schauspieler, an der Orgel von David Kremer begleitet, noch zwei Lieder.

Zwar erklärte Johanna Schall im anschließenden Publikumsgespräch, sie habe absichtlich eine Collage mit den späteren Texten erstellt. Doch hier war der ansonsten sehr gelungene Abend nicht ganz überzeugend. Aufgrund seiner ganz besonderen Umstände bleibt er dennoch denkwürdig – trotz eines Dramas, das wenig über das Niveau von Schülertheater hinausweist. Wer wollte darüber auch den Stab brechen? „Es flattert um die Quelle / Die wechselnde Libelle, / Mich freut sie lange schon; / Bald dunkel bald helle, / Wie der Chamäleon.“ Goethe war älter als Brecht bei der „Bibel“, als er das dichtete. Es hat deshalb keinen Sinn, das „kleine Stück“ zu erdrücken durch die Sicht auf den damals noch gar nicht vorhandenen Autor, wie Johanna Schall sehr plausibel ausführte.