Ingolstadt
Die Geschichte einer kollektiven Verdrängung

22.02.2018 | Stand 02.12.2020, 16:47 Uhr

Ingolstadt (sic) Die medizinischen Fachverbände haben lange gebraucht, um die düstere Vergangenheit ihres Berufsstands zu erhellen und die Verbrechen ihrer Vorgänger offen zu benennen. Wie immunisiert gegen das Böse, das - auch im Namen der deutschen Ärzteschaft - in der Zeit der NS-Herrschaft geschehen ist, klammerten Verbände das unangenehme Thema aus; auf Kongressen, in den Universitäten oder in der Publizistik verloren die Kollegen offiziell kein einziges Wort darüber.

Doch die Mediziner waren nicht die einzige Berufsgruppe, der man eine ausgeprägte, viele Jahrzehnte währende Vergangenheits-Resilienz attestieren muss. Egal, ob Unternehmen, Kultur, Polizei, Justiz, Journalismus, Bildung, Kirchen oder Wissenschaft: In allen Sphären der Gesellschaft weigerte man sich lang, die NS-Zeit kritisch aufzuarbeiten; einige Standesvertreter plagen sich bis heute damit.

Auch die Deutsche Röntgengesellschaft und die Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie haben das "Dritte Reich" lange erfolgreich umgangen. Was die Präsidenten beider Fachverbände bei der Eröffnungsfeier für die Ausstellung unverblümt zugaben. "Radiologie im Nationalsozialismus", ein Gemeinschaftswerk der Gesellschaften in Kooperation mit dem Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg, ist daher eine Initiative, um die NS-Vergangenheit von Strahlentherapeuten und Radiologen zu erhellen und das jahrzehntelang Versäumte, ja Verdrängte, nachzuholen.

Die Exponate (etwa alte Röntgentechnik), Schautafeln und Medienstationen sollen "einem großen Publikum nahebringen, was Schreckliches passiert ist", sagte Prof. Stefan Schönberg, der Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft. Die habe "das Thema bis 1995 komplett ausgeklammert". 2005 wurde auf einem Kongress "nur kurz erwähnt", dass Ärzte Verbrechen begangen haben. Für die Forschung stehe fest, dass keine Einzeltäter am Werk waren. "Es hat sich eine breite Gruppe schuldig gemacht", so Schönberg. Sie trage Mitschuld an 360 000 Zwangssterilisierungen, an der Ermordung von 200 000 Menschen mit Behinderung und an vielen weiteren Untaten im Dienst der "Volksgesundheit", der "Rassenhygiene" und einer ethisch völlig enthemmten Forschung. Heute könne die Deutsche Röntgengesellschaft voller Berechtigung sagen: "Wir haben uns unserer Vergangenheit gestellt!"

Ebenso die Gesellschaft für Radioonkologie. "Unser Verband wurde zwar erst 1995 gegründet", sagte dessen Präsident Normann Willich, aber diese zeitliche Distanz entlasse die Gesellschaft nicht aus der Verantwortung. "Denn wir haben eine 100-jährige fachliche Tradition." Die Ausstellung "dokumentiert den Willen, sich schlimmen Dingen in der Vergangenheit zu stellen". Die geleistete Aufklärungsarbeit soll außerdem dazu beitragen, "Ungerechtigkeiten in Zukunft zu verhindern".

Den Ärztlichen Kreisverband Ingolstadt-Eichstätt vertrat dessen Vorsitzender Carsten Helbig bei der Eröffnungsfeier im Koller-Saal. Er lenkte den Blick auch auf die Abgründe der digitalen Medien: "Diese Ausstellung setzt einen Kontrapunkt gegen Fake News und Info-Blasen."