München
Die dunklen Seiten der Kunst

Eine Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne fragt nach den Gefühlen der Betrachter

12.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:25 Uhr
  −Foto: Sam Taylor Johnson, Johannes Haslinger/Bayerische Staatsgemäldesammlungen

München (DK) Ein kleines Mädchen steht in einer Ecke.

Als Betrachter des Bildes "Geheimnis" von Stephan Melzl (2005) sehen wir nur den abgewandten Kopf, den schmalen Rücken, die geschlossenen Füße. Scham, Trauer, Wut - eine ganze Gefühlspalette springt aus dem kleinen Gemälde heraus. "Was löst Kunst in uns aus? Welche Gefühle kommen zum Vorschein, wenn allein die Intuition den Blick leitet? " Diesen Fragen geht eine Ausstellung nach mit dem Titel "Feelings (Gefühle) - Kunst und Emotion". Rund 80 Gemälde haben die beiden Kuratoren Bernhart Schwenk und Nicola Graef in der Pinakothek der Moderne zusammengetragen.

Die Auswahl der Gemälde, Installationen, Filme und Skulpturen in sieben Räumen stellt starke Gefühle wie Angst, Mitleid, Schuld und Ohnmacht vor Augen. Es ist vor allem die dunkle Seite des Herzens, die hier aufgeblättert wird. Dass auch Freude, Lebenslust und Zuneigung zu den Gefühlen des Menschen gehören, wird ausgespart - die Idylle fehlt ganz in den Werken aus den Jahren 1969 bis zur Gegenwart. Allenfalls die Gräser auf der stilisierten Landschaft von Jochen Klein könnte positive Gefühle spiegeln - aber hier fehlt der Mensch.

Es ist also ein ganz bestimmter Ausschnitt des Gefühlslebens, den die Kuratoren vor Augen führen wollen, und sie tun es radikal. Kein Hinweis auf die Künstler ist zu finden, kein Hinweisschild haftet auf den in kräftigen Rot- und Blautönen gehaltenen Wände - lediglich ein einzelner Bildschirm soll Neugierigen Infos zu den Objekten und den Kunstschaffenden bieten. Vor den Werken aber sollen sich die Besucher ganz ungestört der Kunst und ihren eigenen Gefühlen aussetzen. Was ruft ein Geldautomat hervor, vor dem in einer Tragetasche ein Baby mit roter Nase liegt ("Modern Moses" von Elmgreen & Dragset 1961)? Welche Erinnerungen steigen auf vor den alten Schulbänken, in denen dicht gedrängt Wachspuppen mit Glasaugen sitzen ("Die tote Klasse", Tadeusz Kantor 1975)? Wer denkt bei den gelben Warnwesten mit aufgedruckten Blumenfotos an die gespenstische Stille in München nach dem Terror-Anschlag im Olympiazentrum (Beate Passow, "Blumenbilder" 2019)? Und für wen ist das "Family Dinner" des Amerikaners Gregory Crewdson von 2001 peinlich, weil im Türrahmen die Mutter und Ehefrau nackt steht? Die Exponate stammen zum Teil aus dem eigenem Bestand der Staatsgemäldesammlungen und werden ergänzt von Werken aus der Sammlung Goetz und aus Privatsammlungen. Von großer Eindringlichkeit ist der Film "Flur" der Berliner Künstlerin Alexandra Ranner. In einem Gang, der zu einer Behörde oder einem Krankenhaus gehören könnte, stehen, sitzen und liegen Menschen, die sich nur minimal und mit großer Anstrengung bewegen. In der Lautlosigkeit dieses Films schreien Einsamkeit und Traurigkeit laut heraus. Aber wer will sich diesem Kunstwerk aussetzen? Was wird sich ändern durch das Betrachten dieser Arbeit?

Der Philosophie von Ludwig Wittgenstein spürt der Künstler Hans Aichinger mit seinem Gemälde "Sagen und zeigen" nach: "Es zeigt sich etwas, was wir nicht erwartet hatten. " Zu sehen sind zwei junge Männer, zwischen Kindheit und Erwachsensein, auf dem Boden liegend. Wo werden sie in zehn Jahren sein? Was wird in ihrem Leben wichtig werden? Es ist alles offen.

"Kunst berührt unser persönliches, emotionales Archiv", so die Kuratoren der Schau. Die Exponate geben die Möglichkeit, dem nachzuspüren unter Auslassung objektiver Informationen. Allerdings ist die zur Verfügung gestellte "Gefühlspalette" vor allem von dunklen Facetten geprägt. Bedeutet dies, dass positive Gefühle nur noch von der Produkt-Werbung und von idyllischen Kitsch-Filmen gespiegelt werden? Darauf müssen die Besucher dieser Ausstellung für sich selbst eine Antwort finden.

Bis zum 4. Oktober 2020 in der Pinakothek der Moderne, geöffnet täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr.

Annette Krauß